Beechy Island, Nunavut, Kanada (MaDeRe). Zur Vorgeschichte: Auf der Suche nach einer Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik in der Arktis – das berüchtigte Kap Horn an der Südspitze Lateinamerikas sollte umgangen werden – schlug der Marineoffizier und Forschungsreisende John Franklin 1845 auf Beechy Island sein erstes Winterlager auf. Als Basis dienten die beiden Schiffe HMS „Erebus“ und „Terror“. Am eisüberkrusteten Strand künden 700 verrostete Büchsen neben Siedlungstrümmern und Fässern von einem tragischen Ereignis. Drei Männer seiner Besatzung starben hier, wovon heute drei Gräber zeugen. 1904 machte auch der Norweger Roald Amundsen bei seiner Nordwestpassagen-Durchquerung mit der „Gioa“ hier Station. Heute wir. „Kapitän Chlebnikow“ ankert, und wir flitzen mit den Zodiacs zwischen Eisschollen hindurch zur Küste.

Mitte 1980 exhumierte eine kanadische Forschergruppe die fast vollkommen durch die Kälte erhaltenen Leichen. Als Todesursache wurde nicht etwa Hunger oder Erfrieren festgestellt, sondern eine Bleivergiftung. Erstaunte Frage: wie das? Die hohe und damit tödliche Metallkonzentration in ihren Knochen geht auf die Lötnähte der Konservenbüchsen zurück. Dieses (Umweltvergiftungs-)Schicksal hat die drei Männer vor Schlimmerem bewahrt. Ihren 109 Kameraden samt Franklin standen furchtbare Qualen bei der zweiten Überwinterung bevor.

Etwas desillusionierend ist allerdings die Tatsache, dass die drei echten hölzernen Grabkreuze (heute stehen sie im Museum in Ottawa) durch Plastikimitate ersetzt wurden. Damit wollte man Souvenirjägern, die es auch in dieser Einöde gibt, ein Schnippchen schlagen. Verboten ist hier nämlich die Mitnahme jeglicher Gegenstände, selbst Steine sind davon nicht ausgenommen. Auch Flugzeugspuren auf dem Strand verheißen regen Besuch, ebenso Metallkapseln mit Nachrichten von Expeditionen. Ein „Besucher“ schwebt per Hubschrauber ein: Prof. Hobbson, Chef der kanadischen Arktisforschung. Er habe unser Premieren-Schiff in Resolute gesehen und wollte uns informieren. Der Wissenschaftler erläutert direkt „vor Ort“ die Geschichte der Franklin-Siedlung. Der geologisch-geomorphologische Formenschatz ist auch sein Thema, und wir hören aus erster Hand Erstaunliches über die zu unseren Füßen sich ausdehnenden Eisstauchstrandwälle, gehobenen Meeresterrassen, Frostmusterböden, Bodenfliesen, Fossilienfunde. Eine praxisnahe Lehrstunde für alle! Unsere Expeditionsteilnehmer-Prozession bewegt sich mühsam über Schotterterrassen aus 400 Millionen Jahre altem Kalkstein zu den zwei Kilometer entfernten Gräbern, in denen die Toten wieder bestattet wurden.

Im Lancaster-Sound begegnen wir ihm leibhaftig: dem „Sir John Franklin“ – allerdings nur dem roten Canadian-Coast-Guard-Eisbrecher-Kollegen von 8.800 tons und 16.000 PS. Beide Schiffe begrüßen sich mit langanhaltendem und von den Fjordhängen widerhallendem Typhonkonzert: jeweils dreimal lang. Hüben und drüben steht alles gespannt an Deck. Ist es doch die erste Begegnung zwischen einem kanadischen und einem russischen Eisbrecher, zumal in diesen Gewässern. Historisch auch dieser kurze Moment. Der rote Kanadier hält auf einen ankernden Tanker zu, um von ihm mit Öl bebunkert zu werden.

Wind und Strömungen haben eine riesige eisfreie Wasserfläche geschaffen, Polynia genannt. Das Erstaunliche, immerhin auf 75°N, ist ein überaus reiches Tierleben in diesem Seegebiet: Wale fast aller Arten, Walrosse, Robben, seltene Vogelarten. Des Rätsels Lösung für dieses Phänomen: Das Sonnenlicht kann hier eisungehindert ins Wasser eindringen und die Entwicklung von Plankton begünstigen. Treffpunkt auch für Pottwale. Ein solcher Riese vertilgt bis zu einer Tonne von diesen Krebstierchen pro Tag. Das sind drei Prozent seines Körpergewichts, unvorstellbar! Im vorigen Jahrhundert wurden diese Meeressäuger in großen Mengen abgeschlachtet.

Obwohl die Sonne in diesen hohen Breiten als „nachtaktiv“ gilt, kann sie nicht die Quecksilbersäule über die Null-Grad-Marke erwärmen. Die Decks verwandeln sich in Rutschbahnen, auf dem Wasser eine scheinbar ölige Schicht: Indiz für die Bildung von Neueis.

An Backbord Devon Island, ein scharfer Kontrast zwischen schwarzen Steilhängen und orange bis lila leuchtendem Nachthimmel.

Fotoreportage

Mehr Bilder zum Beitrag in der Fotoreportage: Nordwest-Passage von Dr. Peer-Schmidt-Walther.

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