Berlin, Deutschland (MaDeRe). „Daß so ein Schiff hier fährt“, staunt Herbert S. Der Kanadier bereist mit seiner Familie im Camper das Gebiet der Großen Seen. „Aber ihr fahrt bequemer als wir“, erkennt er den Vorteil einer 2.442-See(n)meilen- oder 4523 Kilometer-Schiffsreise durch seine Heimat. Er und seine Frau – „with german roots“, deutscher Abstammung wie viele entlang der 10.000 Kilometer langen Uferlinie – können es kaum fassen, dass das „german boat“ mit Passagieren auf dem Riesengewässer unterwegs ist. So wie ihnen geht es vielen. „Aus Deutschland kommt ihr? Unbelievable – unglaublich!“ Zum Herbstbeginn taucht der 15.067-Tonner an den Küsten nicht nur des „Michi gami“ auf. Der von den Indianern so bezeichnete „große See“ ist Synonym für alle fünf geworden. Selbst sensationsverwöhnte Nordamerikaner sehen in dieser Kreuzfahrt etwas Besonderes, geschweige denn, dass sie das Gebiet kennen. Aber die meisten Deutschen haben den größten Seen-Helden noch aus ihrer Schulzeit im Kopf: John Maynard, tapferer Steuermann des auf dem Eriesee vor Buffalo in Brand geratenen Raddampfers SCHWALBE. Theodor Fontanes schildert in seiner gleichnamigen Ballade nach einer wahren Begebenheit im August 1841: Ein Mann bleibt auf seinem Posten, um das Schiff samt Passagieren ans rettende Ufer zu bringen. Manchen fallen noch die ersten Zeilen ein: „John Maynard! Wer ist John Maynard? John Maynard war unser Steuermann. Aushielt er, bis er das Ufer gewann. Er hat uns gerettet, er trägt die Kron. Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn. John Maynard“.

MS Hamburg und die Detroit Princess am Anleger. © Foto/ BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Ort und Datum der Aufnahme: Detroit, 11.10.2023

Von Lakern, Tausendfüßern und Salties

182 Jahre später: Ein elegant geschnittenes Motorschiff ist der Hingucker zwischen Chicago und Montreal. Der schlanke, nur 21,5 Meter breite Schiffsrumpf der HAMBURG wurde in Wismar maßgeschneidert – nichts ragt über das glatte Profil hinaus, sogar die „Wings“ oder Brückennocken sind einfahrbar – für ein reibungsloses Auf und Ab durch das Schleusensystem des 3700 Kilometer langen Sankt-Lorenz-Seeweges. Dennoch knirscht es beängstigend, wenn sich ein Schiff in die Kammern zwängt. Unübersehbar sind die Kratzspuren im Vorschiffsbereich der großen Frachter. Die beiden Lotsen und der Rudergänger müssen dann höchst konzentriert bei der Sache sein.

15 Wassertreppen, 1959 fertiggestellt, heben ein Schiff bis zum Lake Superior rund 183 Meter hoch. Was kaum jemand weiß, welche Brocken in der Große-Seen-Fahrt unterwegs sind. Die größten werden hier „Tausendfüßer“ genannt. Erz-, Weizen- und Kohlefrachter von über 1.000 Fuß oder bis zu 306 Meter Länge mit einer Tragfähigkeit von knapp 100.000 Tonnen. Sie sind wegen der Schleusenmaße – manche davon noch größer als im Panama-Kanal – Gefangene ihres Fahrtgebietes: hier gebaut und „dank“ ihrer gewaltigen Abmessungen ohne Chance, jemals den Atlantik zu sehen. Sie heißen deshalb auch „Laker“. Andere, sogenannte „Salties“ oder Salzwasser-Schiffe, mit maximalen Abmessungen von 225 Metern Länge, 23 Metern Breite und 8,8 Metern Tiefgang kommen über den Welland-Kanal und fünf weitere Kanäle zwischen Ontario- und Eriesee aus Europa und der übrigen Welt: mit Containern, Fahrzeugen, Öl oder Stückgut, wobei sie bis zu 27mal die internationale Grenze zwischen den USA und Kanada passieren. Aus Duluth zum Beispiel, dem größten Binnen-Seehafen der Welt am Südzipfel des Lake Superior, schleppen sie Papier, Holz, Weizen und Erz zurück durch den Sankt-Lorenz-Seeweg über den Atlantik – insgesamt pro Jahr 36 Millionen Tonnen.

Sturm mit über sechs Meter hohen Wellen auf Erie- und Ontariosee. © Foto/ BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Ort und Datum der Aufnahme: Erie- und Ontariosee, 14.10.2023

Eiszeitfolgen und Fünf-Seen-Fahrt

Die entscheidenden Vorleistungen für die Seeschifffahrt erbrachte das Eis durch seine tiefschürfende Arbeit vor rund 10.000 Jahren. Mehrere Kilometer mächtige Gletscher hobelten damals ein Becken aus dem granitenen Urgesteinsgrund, in das flächenmäßig ganz Deutschland passen würde. Allein die Wassermassen des Lake Superior könnten die USA einen Meter hoch bedecken.

Ein spontan-ehrliches „Oh!“ entfährt der Dame im Decksstuhl, als der Kreuzfahrtdirektor in der morgendlichen Lautsprecher-Ansage die Seetiefe mit knapp 200 Metern Wasser unterm Kiel angibt. Zwischen 311 und 563 Kilometern Länge ziehen sich die fünf Binnenmeere Lake Superior, Michigan, Huron, Erie und Ontario hin, die bis über 400 Meter tief und mit rund 35.000 Inseln gesprenkelt sind. „Fünf-Seen-Fahrt mal ganz anders als bei uns in der Holsteinischen Schweiz zwischen Malente und Plön“, sagt jemand, der aus der norddeutschen Region stammt.

Über 2.342 Seemeilen muss ein Schiff vom Atlantik bis zum äußersten Zipfel des Lake Superior dampfen. Das entspräche der Entfernung von Neufundland zum Englischen Kanal über den „großen Teich“. „Und das mitten in Amerika!“, staunen die Gäste. Sie hat es hauptsächlich hierhergezogen „…um einmal das größte zusammenhängende Binnenwassersystem der Erde zu befahren!“ Drei Viertel des weltweiten Frischwassers sind darin gespeichert. Hier zu fahren, das sei gewissermaßen ein Privileg, wie der Kreuzfahrtdirektor meint. Auch Seeleute und Mehrfach-Weltreise-Passagiere, die glauben, alle Häfen und Gewässer dieser Welt zu kennen, müssen bei den Great Lakes oder Großen Seen passen.

Indian Summer glüht in den Wälder bei Kingston am Ontariosee. © Foto/ BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Ort und Datum der Aufnahme: Kingston, 20.10.2023

Seenfahrt zum Indian Summer

Schon beim Anflug auf Montreal hat man das Gefühl, über einem Meer zu schweben. Die zweiwöchigen Seen-Reisen verstärken dieses Gefühl noch. Dennoch muss man normalerweise keine Seekrankheit befürchten. „Seh-krankheit schon“, meint ein Witzbold. Aber: Herbstliche und winterliche Stürme brechen dann umso verheerender los. Im November 1975 zerbrach der 30.000-Tonnen-Erzfrachter „Edmund Fitzgerald“ in den bis zu sieben Meter hohen Wellen des Lake Superior und versank mit 29 Mann in Minutenschnelle. 10.000 Wracks auf dem Grund der Seen und der Ortsname Thunderbay sprechen eine deutliche Sprache. Auch MS HAMBURG hat das gleich zwei Mal erfahren müssen, als sie von mächtigen Sechs-Meter-Wellen kräftig durchgeschüttelt worden ist. Weswegen auch Häfen ausfallen und umgeroutet werden muss. Dann erlebt man schon mal vier Seetage oder 483 See(n)meilen am Stück, ohne je einen Fuß an Land gesetzt zu haben. „Das ist schon mega-krass“, meint ein junger Mann, der sich auf Touren mit einem der bordeigenen Fahrrädern gefreut hat.

Die eindringlich nördlich-herbe Schönheit der scheinbar endlosen wald- und wasserreichen Region – Paradies für Naturfreaks und Wassersportler – hat viele Gäste angelockt. „Auch dies ein alter Traum von mir“, gesteht ein Gast. „Per Auto oder Camper wäre das ein ziemlicher Aufwand“, begründet er die Reisewahl. „´HAMBURG` hat ‘s möglich gemacht“, ergänzt seine Frau, die sich wie viele andere auf den „Indian Summer“ freut, die herbstlich-flammenden Bäume der Region, die wegen ausbleibender Kaltluft noch am Anfang ihrer Prachtentfaltung stehen. Schon 1608 gingen hier Franzosen vom kanadischen Quebec aus auf Entdeckungsreise: nicht auf der Suche nach des Farbenpracht des Laubs, sondern um die legendäre Nordwestpassage zu finden, den direkten Wasserweg zum Pazifik.

Brücke bei Detroit im Abendlicht voraus. © Foto/ BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Ort und Datum der Aufnahme: Detroit, 18.10.2023

Groß und stark: Checagou

Die Reiseleiterin schwärmt von „ihrem“ Chicago. Die drittgrößte Stadt der USA, in der 85 Nationalitäten zu Hause sind und 54 Sprachen gesprochen werden, wurde von den längst ausgerotteten Woodland-Indianern einst „Checagou“ – „groß und stark“ – genannt. Das war 1000 vor Christus, aber doch mit Blick in die Zukunft. Heute pulsiert in der sauberen Acht-Millionen-Metropole im Staate Illinois das Leben. Fernab von längst überholten Mafia-Vorstellungen, Schlachthofgerüchen und Schmuddel-Image. Chicagos Kunst-, Musik- und Kulturszene ist mittlerweile „incomparible“ – unvergleichlich. Eingeschlossen die Skyline mit dem Sears Tower, einem der höchsten Gebäude der Welt – und einem traumhaften Blick aus 442 Meter Höhe über Stadt und Michigan-See. Seine langen weißen Sandstrände und die türkisklaren warmen Fluten seien für Badegäste nicht ganz ungefährlich, erfährt man: Sonnenbrand – über 2.500 Stunden jährlich strahlt hier der heiße Planet – lässt einen schnell zur Rothaut mutieren. Mit dem berühmten „Indian Summer“ hat das allerdings nichts zu tun. Manitou lässt grüßen, dem zu Ehren eine Insel im Lake Huron benannt wurde.

Beeindruckende Abendstimmung über dem Huronsee. © Foto/ BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Ort und Datum der Aufnahme: Huronsee, 13.10.2023

German Gemütlichkeit

Frühmorgendlicher Blick aus dem Kabinenfenster Aus dem Dunst ragen Wolkenkratzer. „Versammlungsplatz am Wasser“, wie Milwaukee, so liest man, aus dem Indianischen übersetzt heißt. Gelegen im Staate Wisconsin oder in der Sprache der Ureinwohner: „Ouisconsin“ – wo die Wasser zusammenfließen. Und nicht nur das, sondern auch Menschen wie zum Beispiel Frank H., den wir in einem „German Pub“ treffen. Er lüftet seinen Gamsbarthut und begrüßt die Ankömmlinge mit einem stilechten „Grüß Gott!“ und einheimischem Gerstensaft. Er, seine Frau Dr. Ruth H., gebürtige Naumburgerin, Magrit H. aus Brake an der Unterweser und Traudl M., von der Bierstadt Radeberg nahe Dresden ausgewandert, bilden das sächsisch-niedersächsisch-anhaltinisch-bayerische Komitee vom Verein „German Fest Milwaukee ‚Gemütlichkeit‘ “. Mit Heimatvereinen und Dialektvarianten zwischen Flensburg, Rostock, Dresden, Dorsten und Garmisch. Ihre seit Jahrzehnten neue Heimat ist die „deutscheste Großstadt“ der USA. Geprägt von Bierbrauereien, landsmannschaftlichen und Turnvereinen, Feuerwehr und Kleinstadtatmosphäre – trotz eineinhalb Millionen Einwohnern.

Als der Ex-Schwabe Joe Rosenzweig aus der HAMBURG-Runde das mundartliche „Heilandzack!“ vernimmt, bricht es aus ihm heraus: „Ein Fluch aus der schwäbischen Heimat ist mir lieber als 1.000 Dollar.“ „Grüß mir die Heimat – Deutschland geht mir doch noch über alles!“ Rührung auf beiden Seiten. Lange winken und rufen sie zum Abschied: „Auf Wiedersehen, ‚HAMBURG‘!“

MS Hamburg wird von einer Auswandererfigur in Detroit gesegnet. © Foto/ BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Ort und Datum der Aufnahme: Detroit, 11.10.2023

Reisehinweise:

Schiff: MS HAMBURG (ex cCOLUMBUS/Hapag Lloyd); Baujahr: 1997; Bauwerft: MTW, Wismar/Mecklenburg-Vorpommern; renoviert: Mai 2012 bei der Werft Enti Bacini in Genua, Italien; Eigner: der italienische Schiffsausrüster Ligabue Corp. Ltd, Venedig; Veranstalter: Plantours Kreuzfahrten, Bremen; BRZ: 15.067; Länge: 144 m; Breite: 21,5 m; Tiefgang (max.): 5,15 m; Maschinen: 4Wärtsilä 6L32 mit zus. 10.560 kW (14.358 PS); Geschwindigkeit (max.): 18,5 kn; Propeller: 2 Verstellpropeller; Umwelt: Müllverbrennung, Bioklär- und Osmose-Anlagen; Stabilisatoren: ja; Passagierdecks: 6; Passagierkapazität: 400; Kabinen bzw. Suiten: 197/8; Crew: 170; Zodiacs: 6; Bordsprache: Deutsch; Bordwährung: Euro; Hospital: ja; Flagge: Bahamas; Heimathafen: Nassau.

Verbrauch: 929 kg Rindfleisch;1.165 kg Schweinefleisch; 2.2660 kg Milchprodukte; 1.330 kg Meeresfrüchte; 23.800 St. Eier; 1.568 kg Mehl; 157 kg Salz; 599 kg Zucker; 10.147 kg Obst und Gemüse; 1.371 l Bier; 3.644 Fl. Mineralwasser; 1.269 l Weißwein; 1.405 Dosen Cola, Fanta, Sprite

Route: Montreal-Welland-Canal-Detroit-Traverse City-Chicago-Milwaukee-Windsor-Port Colborne-Welland Canal-Toronto-Montreal

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