Berlin, Deutschland (MaDeRe). „Um die Ecke geht´s zum Boot“, lautet die Kapitänsempfehlung an diesem Abend. Was hier scheinbar widersprüchlich daherkommt, ist durchaus ernst gemeint. Dahinter steckt ein besonderes Konzept.

Deutschlands größter See, die Müritz, gibt sich sanft an diesem Vorsommer-Abend. Der Seespiegel blankgeputzt, die Ufer mit frischem Grün garniert. Raps- und Räucherdüfte parfümieren die Luft.

Auf den Anleger hält ein weißes Schiff zu. Beim Näherkommen verraten die geschwungenen Buchstaben am Steven seinen Namen: „Liberté“. Das riecht nach Freiheit. Vielleicht auch nach „Traumschiff“ und mehr…

Ein junger Mann „in Zivil“ beugt sich über den Aussenfahrstand, dreht den Kopf abwechselnd nach vorn und achtern. Das Bugstrahlruder rumpelt, quirlt klares Hafenwasser auf. Bis die Leinen über Bord fliegen, schwungvoll geworfen von vier zarten Frauenhänden. Nach dem Kommando „fest!“ verabschiedet sich die Maschine kleinlaut. Sanft lehnt sich der Mini-Kreuzfahrer an die dicken hölzernen Dalben im Hafen der „Weißen Flotte“.

Ganz entspannt auf MS Liberté – Kapitän Thomas Magner in einer Schleuse. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther

Maritime Frauen-Power

„Thomas Magner“, stellt sich der freundliche Mittdreißiger völlig unprätenziös vor, „ich bin der Kapitän“. Weder Uniform noch vier goldene Schulterstreifen signalisieren seinen Rang. „Das brauchen wir hier auch nicht“, lächelt er bescheiden und stellt seine „beiden Mädels“ vor: Monika, die Kapitänsfrau, und Andrea, die Stewardess. Ihr Reich: Küche und sechs Doppelkabinen samt Service für maximal zwölf Passagiere. „Natürlich gehört auch das Festmachen und Ausbringen der Gangway dazu“, erklärt Magner, „meine Crew besteht nämlich aus Allroundern“. MS „Liberté“ – das heißt auch Alleskönner-Frauen-Power ohne Seemannshände, aber mit Gefühl.

„Heute Abend bleibt die Küche kalt“, erklärt Monika und ihr Mann, Chef und Kapitän ergänzt: „Die Gäste haben sich für das Abendessen an Land entschieden. Dafür die ´Boot`-Empfehlung“. Dahinter steckt kein Schiff, sondern ein renommiertes Lokal.

Das idyllische Landstätdchen Malchow am See wird passiert. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Aufnahme: Malchow

Ein Klang wie Freiheit

„Wir wollen auch mal die kulinarischen Highlights an Land genießen“, mischt sich eine Passagierin ein und begründet so die an Bord übliche Halbpension, „das macht uns freier“. Bevor die Gruppe Kurs auf das nahe, beschauliche Müritz-Städtchen nimmt, ruft Magner seine Schäfchen zusammen: „Auslaufen morgen früh um neun, Frühstück ab acht Uhr – sind Sie damit einverstanden?“ Auch der Kurs wird gemeinsam abgesteckt: durch die Binnenmüritz, den Reekkanal auf den Kölpinsee. „Zum Mittagessen könnten wir eigentlich in Plau am See festmachen“, rechnet Thomas Magner laut weiter.

„Liberté“ – das klingt nicht nur wie Freiheit, sondern die wird an Bord auch gelebt.

Die Mitreisenden, eine Senioren-Gruppe befreundeter Ehepaare und ehemaliger Geschäftspartner, sind sich schnell einig: „Wir wollen familiär reisen“. Dazu gehört auch die Abstimmung des Speiseplans mit Köchin Monika. „Nur der tägliche Kuchen“, strahlt sie, „von mir gebacken, ist eine feste Größe, aber immer anders“. Frische Brötchen besorgt der Kapitän höchselbst. Für größere Einkäufe steht ein Kleinwagen auf dem Achterdeck.

MS Liberte, hier kann man salonmäßig entspannen. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Aufnahme: Kummerower See, 20.5.2009

Träume und Sehnsüchte

Gegen Mitternacht zieht eine fröhliche Truppe über die See-Promenade zu ihrem Schiff. Begeistert von der „Müritz-Perle“ und beseelt von „geistigen“ Getränken. An der Bar kredenzt Andrea noch einen Absacker bei Kerzenschein. Die beiden Salons in warmem Holzton mit viel Messing sorgen für Wohlgefühl. Über das „Meerchen“, wie „Müritz“ auf altslawisch heißt, breitet ein makelloser Sternenhimmel seine blaue funkelnde Decke. Der Nachtwind raut den See auf und lässt rhythmisch Wellchen an die Bordwand klatschen. Die perfekte Einschlafmelodie in gemütlichen Kabinen im Herzen Mecklenburg-Vorpommerns, der gewässerreichsten Region Europas.

Gelegenheit für Thomas Magner, seinen Prospekt aufzuklappen und eine Karte mit vielen roten Punkten zu präsentieren: „Da überall fahren wir hin, von der Ostsee bis ans Mittelmeer, kreuz und quer durch den Kontinent, von der Seine bis an die Oder“. Eine Europa-Karte, die Sehnsüchte weckt, gestrickt nach einem individuellen Muster. „Das“, sagt Thomas Magner, „lässt viel kreativen Spielraum für Gästewünsche“. Eine Ost-Erweiterung könne er sich auch vorstellen: zum Beispiel durch Pommern und Westpreußen ins ostpreußische Masuren.

Gesellige Runde im Grünen auf MS „Liberte“. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther

Modern-nostalgische Herausforderung

Der Kapitän aus dem traditionsreichen Elbe-Schifferdorf Bittkau, früher auch „Klein-Hamburg“ genannt, weiß, wovon er spricht. Schon als Kind befuhr er mit seinem Vater Johann, der das Flusskreuzfahrtschiff „Saxonia“ führt und als Wassertourismus-Pionier in Mecklenburg-Vorpommern gilt, europäische Flüsse und Kanäle. So lernte er das Binnenschiffer-Handwerk von der Pike auf. Bis er selbst Chef auf einem Kabinenschiff, der „Eurostar“ (jetzt „Johannes Brahms“) wurde. „Ein schönes Schiff“, sinniert er, als der honigfarbene Mond wie zur Bestätigung über dem See lächelt, „doch selbständig zu sein ist schon was anderes“.

Die Herausforderung, aus dem 1935 gebauten und zum Passagierschiff umgebauten Frachtschiff allmählich eine eigenständige Marke zu entwickeln, haben er und sein Frau angenommen. Für ihre „alte Lady in neuem Glanz“ haben sie eine Reihe von anspruchsvollen Slogans gewählt: „Reisen mit der ´Liberté`– das ist europäische Schifffahrtsgeschichte, nostalgischer Charme und moderne Bequemlichkeit, kulinarische Stipvisiten, Wellness-Programm für Leib und Seele, sich unterwegs wie zu Hause fühlen“.

Gemütlich-freundlich-helle Kabine. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther

Seh- und Seeleute unter sich

Als es am nächsten Morgen bei strahlendem Sonnenschein wieder „Leinen los!“ heißt, Kaffee- und Brötchenduft durch die Salons weht, gesteht eine Dame: „Ich musste mich erst an diese unglaubliche Ruhe gewöhnen. Meine innere Uhr tickte anfangs noch wie zu Hause“. Befragt nach den Motiven der Schiffswahl für die achttägige Reise von Berlin nach Schwerin, erwidert sie spontan: „Weil sie so schnuckelig und gemütlich ist, wir unter uns sind und dem Kapitän über die Schulter schauen können“.

Letzteres als Seh- und Seeleute, denn ein echter Nautiker ist auch darunter. Den freut´s, „denn jetzt kann ich mich fahren lassen“. Kapitän Magner, mit 35 noch jung an Jahren, aber schon mit reichlich Erfahrung, strahlt Ruhe und Freundlichkeit aus. Jederzeit ist er zu einem Schwätzchen bereit. „Dort drüben“, reckt er seinen Arm von der offenen Brücke nach Steuerbord, „liegt der Damerower Werder, eine Kölpinsee-Halbinsel, auf der Wisente leben“. Von seinem „schwimmenden Hochsitz“ aus hat er alles im Blick.

MS Liberte Schlafen an Bord mitten im Wald. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Aufnahme: 20.5.2009

Reiselust mit Boot

Touristische Informationen gehören auch zu seinem Job. Manchmal, nach dem Anlegen, kommt sogar jemand vom Fremdenverkehrsbüro vorbei mit einem Packen Prospekte und Karten der Region unterm Arm. Plau am See beeindruckt. Wo auch der Schleusenwärter scheinbar zum „Repertoire“ gehört und das Rezept für sein „Herrentagsmenü“ verkündet: „Eisbergsalat mit Schuss“. Die Räucherei lockt mit goldgelben Aalen, Forellen und Maränen, die neben dem Steg zum Abkühlen hängen.

„Eine Melodie liegt in der Luft…Reiselust“, schwärmt die Stadtbroschüre von Plau am See. Und passend zu unserer Reise: „Um Geheimnisse zu entdecken, braucht man manchmal nur ein Boot“. Wie wahr! Das mecklenburgische Kleinod an der Ostzufahrt zum Elde-Müritz-Wasserweg hat sich herausgeputzt. Vom Burgturm ist die Übersicht weitschweifend. Eine Raps-odie von dottergelben Felder ringsum, die zu blauen Seen und Wattebausch-Himmel kontrastieren.

„Hier bin ich als Junge noch langgepaddelt“, schweift Magner in die Vergangenheit, als er seinen 38 Meter langen Dampfer durch die Hubbrücke, das „Blaue Wunder von Plau“, in die schiffsenge Schleuse einfädelt. Ohne Kratzer oder auch nur einmal anzuecken, aber beäugt von zahlreichen Zuschauern. „Schleusen-Groupies“ nennt er sie scherzhaft.

Geruhsame Kanalfahrt. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther

Abenteuer gar nicht weit

Hinter Plau taucht die „Liberté“ ein in „menschenleeren Urwald“. So jedenfalls empfindet das jemand, „ wo gibt´s noch so viel Natur mitten in Deutschland?!“ Ein deutsch-amerikanisches Ehepaar genießt es, „das alles so friedlich ist“. „Hier hängen ja nicht mal Stromleitungen über dem Wasser“, stellt ein anderer fest. Das Erstaunen ist allgemein groß. Bis plötzlich ein Kanu mit drei Männern aus dem Schilf direkt auf die „Liberté“ zuhält und dann an der Bordwand entlangtaumelt. „Gibt´s hier etwa auch Piraten?“, fragt ein Passagier im Spaß. Spötter, die Tag-Kollegen der Nachtigallen, unterstreichen das groteske „Herrentags“-Szenario durch lautstarke Melodien. Die Schilfhalme verneigen sich bei der Vorbeifahrt, eine Ringelnatter schlängelt sich über die Wasserstraße, ein Reh schaut nur kurz vom Äsen auf.

An der nächsten Biegung tönt Anglers völlig überraschte Stimme aus dem Schilf: „Donnerwetter, watt kommt denn da für´n Riesending! Liberté oder Kaffee?!“

MS Liberte Hinaus auf den Kummerower See. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther, Aufnahme: Kummerower See

Einfach mitgerissen

Ein Prospekt-Merksatz ist hängengeblieben: „Das Abenteuer ist gar nicht so weit, wie man glaubt, ein Teil davon bist auch du selbst“.

Von den Landstädtchen Lübz und Parchim lassen sich die „Liberté“-Fahrer faszinieren. Da wird schon gern mal die festgelegte Zeit überzogen, so dass eine halbe Nachtfahrt zum Übernachtungsplatz vor der nächsten Schleuse notwendig wird. Die Scheinwerferstrahlen huschen über Wasser und Kanalböschung, bohren sich in die schwarze Wand des Waldes. Nebelschwaden umwabern den Bug. „Märchenhaft!“, haucht jemand in die angespannte Stille. Manchmal wird´s so eng, dass Äste nach dem Oberdeck greifen und – auf andere Art als die Gäste – einfach mitgerissen werden.

Bis voraus am nächsten Nachmittag die markante Schloss-Silhouette von Schwerin in Sicht kommt. Ende der ersten „Liberté“-Reise – mit „Entschleunigung“ durch ein nahes, fernes Land.

Reisehinweise:

MS „Liberté“: Technische Daten: Baujahr 1935 als Binnenfrachter; Bauwerft: Th. Kempers & Zoon, Alphen, Niederlande; Länge: 37,66 m, Breite: 5,05 m, Tiefgang: 1,22 m; Verdrängung: 151 Tonnen; Antriebsleistung: 256 kW/333 PS; Rufzeichen: DC 3660; Schiffsnummer: 4305260; Heimathafen: Neckargemünd; Flagge: deutsch.

Bis 1975 als Frachtschiff im Einsatz, 1975 Umbau zum Passagierschiff, 1985 und 1998 komplett überholt (2004: Verlängerung um 4 m) – eine „charmante, alte Lady in neuem Glanz“.

NDR-Film: „Kreuzfahrt im Schneckentempo“.

Ausstattrung: 6 komfortable Doppelkabinen (insgesamt 12 Personen; bei Tagesfahrten bis zu 50 Personen) mit nebeneinander stehenden Betten, Bad mit Dusche, WC; 2 Salons; 1 großes Sonnendeck; 1 Whirlpool unter freiem Himmel; Fahrräder für alle Gäste; 1 Bar; 1 Sauna; offene Brücke; Fernseher: darauf ist bewusst verzichtet worden (niemand hat den bisher vermisst; die Abende werden in eigener Regie gestaltet, sehr gern auch bei Unterhaltung und Spiel oder einer Ortserkundung); Motto: individuelle Kreuzfahrt in kleinstem Kreis; zur Verfügung stehen auch alle technischen Mittel für Seminare und Tagungen.

Große Namensvorgängerin: die 1930 von Blohm & Voß an den Norddeutschen Lloyd abgelieferte „Europa“; sie musste 1946 als Reparationsleistung an Frankreich übergeben werden und erhielt den Namen „Liberté“ (1960 abgebrochen und verschrottet).

Anmerkung:

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