Halifax, Neuschottland, Kanada (MaDeRe). Unsinkbar sollte sie sein und sank doch schon auf ihrer Jungfernfahrt. Der Schock über das Titanic-Desaster vor nunmehr 111 Jahren lief um die ganze Welt und begründete einen Mythos, der bis heute nichts von seiner Wirkung verloren hat.
Die Hafenstadt Halifax im kanadischen Nova Scotia lag dem Unglücksort am nächsten und wurde daher unbeabsichtigt ein Teil dieses Mythos. Denn ihr fiel die traurige Aufgabe zu, viele der Opfer zu bergen. So kam es, dass 121 der Titanic-Opfer ihre letzte Ruhe auf dem „Fairview Lawn Cemetery“ fanden. Grund genug, dem Friedhof einen Besuch abzustatten.
Der Mantel der Geschichte
Mit dieser Neugier bin ich nicht allein, denn auch andere haben sich auf den Weg gemacht, um dem Geschehen von damals nahe zu sein. Wie ein Pilgerzug, der sich in Ehrfurcht einem heiligen Ort nähert. Eine schattige Baumallee gibt in der ausgedehnten Parkanlage die Richtung vor, vorbei an gepflegten Gräbern aus alter und neuer Zeit.
Doch dann werden vier Grabreihen erkennbar, die vorn spitz zulaufen und damit an einen Schiffsbug erinnern. Zudem fallen sie auf durch ihre einheitlich schlichte Gestaltung und auch – sobald man sie erreicht hat – durch das auf allen Grabsteinen gleich lautende Todesdatum. Es ist der 15. April 1912, jene Unglücksnacht, in der das Unbegreifliche geschah. Kein Zweifel: Hier und heute ist es dem Besucher immer noch möglich, vom Mantel der Geschichte einen kleinen Zipfel zu ergreifen.
Jeder tut dies auf seine Art. Und schnell ähneln die Rasenflächen zwischen den Grabreihen einem Kreuzweg mit unterschiedlichen Stationen. Namen werden studiert, persönliche Würdigungen gelesen: „He remained at his post of duty, seeking to save others, regardless of his own life and went down with the ship“ (Pflichtgemäß und ohne dabei auf sein eigenes Leben zu achten, blieb er standhaft auf seinem Posten und versank mit dem Schiff). Diese Würdigung ließ der White Star Line-Direktor J. Bruce Ismay auf dem Grabstein seines Assistenten Ernest Freeman anbringen. Fehlten aber nicht in jener Nacht dem Direktor Ismay gerade die von ihm hier gerühmten heroischen Eigenschaften?
Frische Blumen für J. Dawson
In der zweiten Grabreihe geraten die Pilger ins Stocken. Sie wirken aufgeregt, kommen miteinander ins Gespräch: Ist er es, oder ist er es nicht? Der Grabstein ist schlicht gehalten und trägt den Namenszug „J. Dawson“. Mit diesem Namen werden schnell vertraute Filmszenen assoziiert: „Ja, Jack Dawson, der junge Liebhaber aus dem Film!“
Niemand, der die dramatische Schlussszene nicht vor Augen hätte. Jenen Augenblick, in dem Jack Dawson, gespielt von Leonardo DiCaprio, mit blauen Lippen vor den blauen Augen von Rose im eisigen Wasser versinkt. Wäre also die Leiche des Passagiers Jack Dawson aus dem Wasser gezogen und hier beigesetzt worden? DiCaprio-Fans sind davon überzeugt und legen regelmäßig frische Blumen nieder.
Einige Besucher wissen mehr. Den offiziellen Registern sei zu entnehmen, dass der wahre J. Dawson nicht Passagier, sondern Besatzungsmitglied war. Und dieser J. Dawson arbeitete tief im Bauch der Titanic als Kohlentrimmer für das Gleichgewicht des Schiffes zuständig. Und damitweit entfernt von den Oberdecks mit ihrer feinen Gesellschaft, in der Rose verkehrte. Welch ein Aufstieg vom Niemand im Kohlenbunker zum Publikumsliebling im Film!
Rätselraten um ein „unbekanntes Kind“
Nur wenige Meter entfernt am Ende der Reihe unterscheidet sich ein Grab von allen anderen. Bunte Kinderspielzeuge am Fuße des Grabsteins zeugen von liebevollem Gedenken. Mit diesem Grab verbindet sich wohl eine Geschichte, die schon immer Emotionen hervorrief.
Die Inschrift auf dem Grabstein bestätigt diese Vermutung: „Erected to the memory of an unknown child whose remains were recovered after the disaster to the „Titanic“ April 15th 1912“ (Errichtet zur Erinnerung an ein unbekanntes Kind, dessen sterbliche Überreste nach der Titanic-Katastrophe am 15. April 1912 aufgefunden wurden). Offenbar waren die Besatzungsmitglieder des Rettungsschiffes „Mackay-Bennett“ erschüttert, als sie den kleinen Körper Tage nach dem Unglück aus dem Wasser zogen. Und als sich keine Familie meldete, um sich des Leichnams anzunehmen, stifteten sie dem Kind diesen Grabstein.
Immer wieder wurde versucht, das Rätsel um das „unbekannte Kind“ zu lösen. Vergeblich. Und dann, brachte die Entwicklung der Genanalyse einen Durchbruch. Das mit Spannung erwartete Ergebnis wurde im Jahr 2002 verkündet: Das Kind sei der damals 13 Monate alte Eino Viljami Panula aus Finnland. Die Überführung in eine Heimat wurde sogar erwogen.
Ein Wechselbad der Gefühle
Aber dann wurden Fehler in der DNA-Analyse entdeckt. Das Kind war plötzlich wieder namenlos. Welch ein Wechselbad der Gefühle! Erst recht, als im Sommer 2007 ein neues Ergebnis bekannt wird: Das Kind sei der damals 19 Monate alte Sidney Leslie Goodwin und stamme aus England.
Und tatsächlich, auf der Passagierliste ist nachzulesen, dass der kleine Sidney mit seinen Eltern und fünf Geschwistern in der 3. Klasse unterwegs war in die Neue Welt. Die Identität des unbekannten Kindes schien damit endgültig geklärt. Es wurde sogar daher diskutiert, ob nicht der lieb gewordene historische Grabstein durch einen neuen ersetzt werden sollte.
„A Night to Remember“ heißt der Buchklassiker über die Katastrophennacht der Titanic. Die Gräber auf dem Fairview Lawn Cemetery bilden ein besonders markntes Beispiel für diese Erinnerungskultur.
Fairview Lawn Cemetery, Chisholm Avenue. Anfahrt vom Zentrum Halifax über die Connaught Avenue. Geöffnet täglich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.