Berlin, Deutschland (MaDeRe). Wer sie sah, verfiel ihr: der ANNY VON HAMBURG. So war es schon vor über 117 Jahren – und man erliegt ihrem formschönen Zauber bis heute. Wie ihre eindrucksvolle Biographie belegt.
1914 entstand sie auf der renommierten Werft von C. Lühring in Hammelwarden an der Unterweser. Weitere sieben Schwesterschiffe folgten.
Die erste große Reise des stählernen Frachtseglers ging nach St. Petersburg und endete auch schon dort. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde ANNY nämlich kurzerhand von Russland beschlagnahmt und diente fortan als Wohnschiff für Seekadetten des Zaren.
Erst 1925 kehrte sie als Wohnschiff-Hulk nach Deutschland zurück und wurde auf der Wilhelmsburger Werft von Ernst Harms wieder zum Frachtschiff zurückgebaut und in HANNA umgetauft.
Nach dem Krieg wechselte der Schoner mehrfach den Besitzer und mutierter schließlich sogar zum Motorschiff.
Dabei erhielt das Schiff eine verkleinerte Takelage und einen Zweitaktmotor der Hanseatischen Werke in Bergedorf mit 120 PS. 1936 erwarb der Glückstädter Reeder Max Both den Motorschoner und benannte ihn in KURT BOTH um, Heimathafen blieb Hamburg und war dann in der Trampfahrt nach Skandinavien beschäftigt.
Kümo für Sand- und Kiestransporte
1940 entstand aus dem Dreimaster ein Anderthalbmaster mit einem neuen, 150 PS starken Viertaktmotor der Deutschen Werke in Kiel. Im Zweiten Weltkrieg karrte der Segler Zement von Bremen nach Helgoland, denn die Nordseeinsel wurde zur Festung ausgebaut.
1950 wurde die KURT BOTH auf der Werft Fritz Frank in Hamburg-Wilhelmsburg um acht Meter verlängert. Nach Entfernung des Bugspriets 1952 bei Hugo Peters in Wewelsfleth/Stör entstand aus dem Schoner endgültig ein Motorschiff. Nach knapp 32 Jahren wurde das Schiff 1957 aus dem Hamburger Schiffsregister gelöscht. Es war zum Preis von 230.000 DM an Oscar Abrahamsson & Söhne in Schweden, verkauft worden, für die es als RINGÖ fuhr. 1963 erwarb es der Finne Paul Grönquist, der es dann noch weitere 16 Jahre als Kümo für Sand- und Kiestransporte an der finnischen Küste zwischen Helsinki und Porvoo betrieb.
1980 entdeckte Jörn Deistler, Geschäftsführer der Germania Schiffahrt, Hamburg, das Schiff im Hafen von Karlskrona. Der ehemalige Gaffelschoner war teilweiser ausgebrannt und sah völlig verändert aus. Anhand alter Baupläne der Lühring-Werft wurde eine originalgetreue Restaurierung angestrebt. Doch erst mal wurde umgeflaggt: nach England (1985) und Antigua (1989) und dann im Sommer als Kreuzfahrer durch Ägäis, Mittelmeer und im Winter um die Kanaren und durch die Karibik unterwegs. Zur Kieler Woche und Hanse Sail war sie als Sail Training Ship (STS) immer mit dabei.
Schwärmen trotz Schrott und Rost
1997-98 schließlich wurde sie in Wilhelmshaven generalüberholt und fuhr fortan für die Firma Thien & Heyenga bis 2004 unter portugiesischer Flagge mit Madeira als Heimathafen. Von da an übernahm der Verein Hanse-Koggewerft e.V. das Ruder. Und tauchte damit wieder im Hamburger Schiffsregister auf.
Rund acht Jahre dümpelte das Schiff dann im Leeraner Freizeithafen, nachdem Reeder Hermann Buss es 2007 nach Leer (Ostfriesland) überführt versucht hatte.
Im September 2018 wurde der 119 Jahre alte Dreimastschoner vom Unternehmer und Milliardär Hans Georg Näder übernommen. Er wollte ihn erneut instand setzen lassen und danach durch das von ihm unterstütze Reedereiprojekt Timbercoast betreiben lassen, das sich auf die Fahnen geschrieben hat, Fracht klimaschonend mit Segelschiffen zu transportieren. Der Frachtsegler AVONTUUR ist zurzeit das einzige Schiff der Reederei. Die ANNY wollte er nun wieder als Frachtsegler nutzen. Dazu musste der Schiffskörper zunächst sehr genau unter die Lupe genommen werden. Bei einer ersten Ultraschalluntersuchung des Schiffsrumpfes offenbarte sich bei der ANNY jedoch ein sehr schlechter Zustand, abgesehen von der Takelage, die dringend eine Überholung brauchte. Der Vormast bestand nur noch aus Schrott und unter dem Teakholzdeck rostete alles weg.
Eine Grundsanierung hätte nach vorsichtigen Schätzungen zwischen zwei und drei Millionen Euro gekostet. Wie alle Vorbesitzer wollte man das Schmuckstück vor dem Verfall retten. Da kommt jeder Seemann ins Schwärmen. Allein der Innenausbau und der Salon waren, wenn man alte Fotos ansieht, einfach großartig. Der Rückbau zum Frachter wäre ein Jammer gewesen.
Vielleicht würde aus dem einstigen Frachtsegler doch noch ein Passagierschiff unter Segeln werden? Angesichts der Kostenlawine gaben alle Beteiligten jedoch auf. Man weiß es von der Bark GORCH FOCK II, deren Kostenvoranschläge sich ins Unermessliche steigerten.
Zwei Freunde und ihr Traumschiff
Doch es nahte einmal mehr Rettung. Bis dahin hatte ANNY schon monatelang in Hamburg-Finkenwerder gelegen. Und wieder sind es Finnen, die der Segelschönheit verfallen sind: die Kapitäne Jan Rautawaara und Juha Pokka. Über den Kaufpreis wird Stillschweigen gewahrt: „Erst mal sind alle Reserven weg“, ist nur zu erfahren.
Nach der abschreckenden Vorgeschichte jetzt zwei Verrückte? Jan lacht: „Keineswegs, denn wir haben ein klares ökonomisches Konzept“. Die beiden befreundeten Seeleute kennen sich schon seit 30 Jahren und betreiben auch als Eigner das 53 Jahre alte Küstenmotorschiff JEANNY, das in der Getreidefahrt zwischen Fehmarn, Rostock und Hamburg eingesetzt ist und gerade auf einer Harburger Werft überholt wird.
Beide sind keine unrealistischen Träumer, sondern träumende Geschäftsleute. Sie bringen jahrzehntelange Seeerfahrung, handwerkliches Geschick und das Wissen um alte, kleine Schiffe mit. „Wir machen Vieles selber“, erklärt Jan, der sonst auf der Brücke einer Milliardärsyacht steht, aber auch wie sein Freund Juha alle Arten von großen und kleinen Schiffen geführt hat: ob Frachter, Segler oder Kreuzfahrtschiffe. Jan war bis 2022 Kapitän auf der 20.000 BRZ-Expeditionsyacht CRYSTAL ENDEAVOR, vorläufig letztes Schiff der Stralsunder Volkswerft. Doch es zog ihn – auch aus emotionalen Gründen – wieder an die deutsche Nordseeküste. Sein „Traumschiff“ hatte er ständig im Kopf, das er schon im Kindesalter in Finnland bewunderte. 1997 sogar noch als Kapitän bei Charterreisen mit Gästen entlang der Nordseeküste.
Glamour von klassischem Yachting
Die letzte Stunde der Rettung hat seit dem Kauf für die beiden Schiffsverliebten geschlagen. Ihr Motto: „Segeln ist nicht nur ein Ziel, sondern auch eine Reise“.
Noch im Februar 2023 werden sie den Segler „mit dem großen Potenzial“ auf eigenem Kiel nach der Museumshafen in Wischhafen verlegen, „weil das preiswerter ist als Hamburg“, dort einige Arbeiten ausführen lassen und dann Anfang Mai Deutz-Diesel-Kurs auf eine Werft in Mariehamn auf den Aalandsinseln nehmen. „Dort wird der Schiffsrumpf überholt und die Schiffs-Klasse erneuert. Heimathafen wird Ekenäs/Tammisaari in Südfinnland, wo Holzarbeiten-Experte Juha auch die drei 24 Meter hohen Masten aus finnischer Kiefer setzen wird. „Von dort, Helsinki und Mariehamn aus sollen ab 2024 zunächst Tages-Charterfahrten mit bis zu 30 Gästen durch die Schärengewässer unternommen werden, bei Übernachtungen dürfen es nur zehn sein“, verrät Jan den ersten Schrittin die Passagierfahrt. Ihr Ziel sei schließlich „eine SEA CLOUD en miniature als Expeditionssegler mit einzigartiger privater Yachtatmosphäre und hochklassigem Service” zu schaffen. Über die große, alte Schiffsdame würde Jan allerdings „auch gern mal einen Tag lang das Kommando haben”. Weitere Fahrtgebiete des „etwas anderen Segelschiffes“ sollen dann Norwegen, Spitzbergen, Karibik und das Mittelmeer sein – „emissionsfrei natürlich“, wie Jan Rautawaara betont, ”wir möchten, dass unsere Gäste den zeitlosen Glamour von klassischem Yachting erleben”.
Schiffs-Informationen:
- Typ: Schoner
- Takelung: Gaffeltakelung
- Masten: 3 (Holz)
- Segelfläche: 520 qm
- Bauwerft: C. Lühring, Hammelwarden
- Baujahr: 1914
- Eigner: Diedrich Hasseldieck, Nordenham
- Taufname: ANNY (1914-1925), dann HANNA (1925-1936), KURT BOTH (1936-1957, schwed. Flagge 1957-1963), RINGÖ (1963-1980, bis 1979 als Motor-Kümo unter finn. Flagge), Auflieger in Karlskrona, ANNY VON HAMBURG (seit 1980)
- Schwesterschiffe: 7
- Rumpf: Stahl
- Verwendung: Passagier-Yacht
- Länge (Lüa): 38,0 m, Breite: 6,95 m, Tiefgang (max.): 2,65 m
- Maschine: Deutz, Leistung: 280 PS (206 kW)
Anzeige:
Reisen aller Art, aber nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert und mit Persönlichkeiten – auch Schiffsreisen -, bietet Retroreisen an. Bei Retroreisen wird kein Etikettenschwindel betrieben, sondern die Begriffe Sustainability, Fair Travel und Slow Food werden großgeschrieben.