Posen (Poznań), Wollstein (Wolsztyn), Polen (MaDeRe). Eine exotische Stahlross-Parade macht das von Polen besetzte Wollstein (polnisch: Wolsztyn) alljährlich zum Mekka des Dampfes.
Ein „Kabrio auf Schienen“ ist es wirklich nicht. Dafür fehlt ihm die erforderliche Eleganz. Und doch punktet das sperrige Vehikel mit seiner Originalität. Denn allein menschliche Muskelkraft treibt es an: durch das kräftige Hin- und Herbewegen langer Hebel, das die Energie von vier Menschenstärken direkt auf die Eisenräder überträgt.
Kompliziert? Jedenfalls nicht für den Erfinder Karl Drais, der mit einfachen technischen Mitteln die nach ihm benannte Eisenbahn-Draisine das Fahren lehrte. Ob ihm damals wohl bewusst war, welchen Riesenspaß diese Art der Fortbewegung später einmal mit sich bringen würde? Entsprechend laut sind heute die Freudenschreie der Passagiere, die ihre Muskelkraft auf diese ungewöhnliche Weise unter Beweis stellen müssen.
Blumenpflücken während der Fahrt
Besonders empfänglich für diese Art von Freizeitvergnügen ist man in Polen. Hier haben sich zahlreiche Vereine der Erhaltung und Pflege all dessen verschrieben, das im weitesten Sinne mit der Tradition des Eisenbahn-Transportwesens zusammenhängt. So auch Marcin Bens aus Grätz (polnisch: Grodzisk) im Verwaltungsbezirk Großpolen (polnisch: Wielkopolska, der sich bei einer Draisinen-Ausflugsfahrt zum alten Bahnhof von Ujest (polnisch: Ujazd), in seiner Rolle als Oberschaffner bestens bewährt.
Und der dann völlig unerwartet kurz vor Sonnenuntergang mit Hilfe seines Vereinsfreundes Mikulaj Rzanny für die Rückfahrt durch die üppig blühenden Rapsfelder einen umgebauten Fiat 600 des polnischen Modells „Maluch“ vorspannt. Ein rot lackiertes Fahrzeug-Unikum, dessen zügigere Gangart das sprichwörtliche Blumenpflücken während der Fahrt verhindert. Nur an den Gleisübergängen schaltet Marcin herunter und bietet den wartenden Autofahrern allein durch das Erscheinungsbild des seltsamen Gefährts einen amüsanten Anblick.
Ein Prachtstück aus Platons Dampflok-Ideenhimmel
Eisenbahn-Spezialisten wie Marcin und Mikulaj sind natürlich mit der Eisenbahn-Szene in Polen bestens vertraut. So auch mit dem historischen Dampflok-Sonderzug von Poznan (Posen) nach Wolsztyn (Wollstein), jener Kleinstadt in der großpolnischen Provinz, die einmal im Jahr als Dampflok-Eldorado die Blicke mehrerer zehntausend Eisenbahn-Romantiker aus dem In- und Ausland auf sich zieht.
Noch bevor sich das Prachtstück, das Platons perfektem Dampflok-Ideenhimmel entstammen könnte, am nächsten Morgen im Bahnhof von Posen (polnisch Poznan) schnaufend in Bewegung setzt, lässt es sich kaum jemand der Mitreisenden nehmen, der auf Hochglanz polierten Lokomotive seine Reverenz zu erweisen: Kessel und Führerhaus in funkelndem Schwarz und dazu als Kontrapunkt die rot lackierten massiven Räder, die schon ungeduldig darauf zu warten scheinen, sich endlich in Bewegung setzen zu dürfen. Dann, erstaunlich pünktlich, der erwartete gellende Pfiff, und schon setzt sich der Dampfzug bei seiner sentimentalen Zeitreise in Richtung Eisenbahn-Vergangenheit in Bewegung.
Winzige Papp-Fahrkarten und rote Dienstmützen
Entsprechend traditionell herausgeputzt nimmt auch das Zugpersonal seinen Dienst auf. Da werden winzige Papp-Fahrkarten mit uralter Kartenzange geknipst und bejahrte Schaffneruniformen mit leuchtend roten Dienstmützen zur Schau gestellt. Und nirgendwo wird einer jener modernen Umhänge-Fahrkartencomputer erkennbar, der dieses beschauliche Bild stören könnte. Stattdessen immer wieder mit der polnischen Eisenbahn-Szene vertraute Fachleute, die in das Abteil hineinschauen und bereitwillig Antwort geben auf Fragen über die Zugdetails und das erwartete Eisenbahn-Großereignis in Wollstein (polnisch: Wolsztyn).
Da ist beispielsweise Krzysztof Modrzejewski, der sich mit seinen zwanzig Jahren schon mit den Behörden herumschlägt, um von ihnen finanzielle Unterstützung für den erhaltenswerten Betriebsbahnhof in Gnesen (polnisch: Gniezno zu erhalten. Oder Patryk Skopiec, der schon zum 19. Mal als Chef-Organisator des Wolsztyn-Eisenbahn-Festivals sein Hobby zum zweiten Beruf macht. Allesamt Idealisten, denen man ihre Begeisterung unmittelbar ansieht.
Lok-Paradestücke wie dunkle Metallhügel
So vergeht die gut einstündige Fahrtzeit wie im Fluge, bis sich durch Verbreiterung des Gleiskörpers das Fahrtziel ankündigt. Und dann, nach dem Greifen der Zugbremsen, heißt es plötzlich einzutreten ins polnische Dampflok-Paradies, wo 25 filmreife Oldtimer darauf warten, von jedermann bewundert zu werden: „Ist dies auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig nicht die alte Dampflok, die in Roman Polanskis „Der Pianist“ über die Leinwand fauchte?“ Kenner gibt es hier genug, die diese Frage bestätigen können.
In langen Reihen hintereinander gekuppelt, wirken manche Loks im Mittags-Gegenlicht wie dunkle Metallhügel. Auf ihnen tummeln sich forschende Bergsteiger mit Kamera und Modellbeschreibungen, um ihnen alle ihre Geheimnisse zu entlocken: „Und ist dieses Paradestück nicht sogar die legendäre „deutsche Kriegslok“?“
Mehrere tausend wurden einst von ihr gebaut, schlicht und doch zuverlässig. Denn statt der sonst üblichen 6 000 Zubehörteile kam sie aus mit nur 5 000 und war daher in ihrer Pflege anspruchsloser als andere Loks dieser Größenordnung. In die Bewunderung mischt sich natürlich auch die Frage, in welcher Kriegsfunktion dieses beeindruckende Exemplar der Seriennummer 52 wohl eingesetzt war. Doch dazu gibt es an dieser Stelle nur Spekulationen.
Lokomotiv-Drehscheibe wie ein Riesenspielzeug
Entlang den Bahnhofs-Schienensträngen bewegt sich der Menschenstrom nun zielstrebig weiter. Vorbei an einer riesigen Zapfsäule, an der gerade der Kessel einer Dampflok mit Unmengen von herab stürzendem Wasser aufgefüllt wird. Auch dieses Ungetüm ist unterwegs zum Herzstück der gesamten Anlage, jener Lokomotiv-Drehscheibe, die sich wie ein Riesenspielzeug um den eigenen Mittelpunkt zu drehen beginnt, sobald eine der Lokomotiven sie befahren hat.
Denn schon warten acht mächtige geöffnete Flügeltore darauf, der Lokomotive Zufahrt in die ölverklebte Wartungshalle zu gewähren. Hier wird geschmiert und poliert, hydraulisch gehoben und kritisch überprüft. Und dies alles in einer unglaublichen Geschwindigkeit, da technische Effektivität stets eine Grundvoraussetzung war für einen reibungslosen Ablauf des Personen- und Güterverkehrs.
Und doch ist am heutigen Tag alles ein wenig anders. Denn im Vordergrund steht der Volksfestcharakter dieser Veranstaltung, und da drückt man, was die Strenge der Sicherheitsstandards angeht, schon mal gern ein Auge zu. Nacheinander dürfen Kinder hinauf in eines der Führerhäuschen, um dort einen Mark erschütternden Pfiff auszulösen, der sich wie ein kurzes Echo an den Wänden der Halle bricht. Kein Verbot, keine übertriebene Vorsicht – und daher ein wunderbar entspanntes Miteinander!
Prozession der Eisenbahn-Oldtimer
Doch dann wird es plötzlich aufregend. Denn mit dem Anmarsch einer Blaskapelle kündigt sich der absolute Höhepunkt an: die Prozession sämtlicher Eisenbahn-Oldtimer, die an diesem „Tage des Dampfes“ noch einmal zeigen wollen, was in ihnen steckt. Erwartungsvoll stehen nun gut 30.000 Besucher Spalier an den Gleisen, um den Königinnen der Dampflokomotiv-Ära begeistert zu applaudieren.
Und schon rollen sie paarweise heran, jeweils mit einem lauten Pfeifen, das das Trommelfell in einen ständigen Alarmzustand versetzt. Hinzu kommen die über ihnen schwebenden schwarzen Rauchwolken, die in ihrer näheren Umgebung zwar keine weiße Wäsche auf der Leine dulden, zu einem solchen Dampflok-Großereignis aber unbedingt dazu gehören.
Origineller Draisinen-Endspurt
Und ganz zum Schluss, als wollten sie es mit den riesigen Dampfmaschinen aufnehmen, die Parade der kleinen Draisinen. Eine origineller als die andere, und die von Marcin und Mikulaj ist natürlich auch dabei. Sie alle legen sich kräftig ins Zeug, um zumindest so zu tun, als könnten sie den Anschluss halten. Dennoch nehmen sich beide Bekannte vom Vorabend die Zeit, um kurz herüber zu winken. Eine Geste, mit der die „Polonaise“ der Dampfloks aus Polen, Deutschland und Tschechien ihren Abschluss findet?
Noch nicht ganz. Denn abends drehen einige von ihnen noch einmal auf und zeigen sich beim Dampf-Ablassen während einer bunten Lichtschau in den beeindruckendsten Farben. Und das Schönste für alle Eisenbahn-Freunde: Die spektakulären Tage des Dampfes kommen im nächsten Mai wieder zurück nach Großpolen (polnisch: Wielkopolska), so sicher wie das Amen in der Kirche.
Fotoreportage
Mehr Bilder im Beitrag Fotoreportage: Im Zentrum der polnischen Eisenbahn-Romantik in Wollstein von Dr. Bernd Kregel im MaDeRe.
Reiseinformationen „Polen Eisenbahn“
Anreise: Ausgangspunkt für sentimentale Bahn-Zeitreisen in Wielkopolska ist die Hauptstadt Poznan. Die Anreise hierher erfolgt mit dem Flugzeug, der Bahn oder dem eigenen Auto.
Einreise: Es genügt ein gültiges persönliches Ausweisdokument.
Reisezeit: Die Wojewodschaft Wielkopolska bietet vor allem im Sommerhalbjahr ein reichhaltiges Programm für sentimentale Zug-Zeitreisen auf unterschiedlichen Strecken als reguläre Personenbeförderung und mit Sonderzügen, Angebot auch für organisierte Gruppen. Näheres auf den u.a. Websites.
Unterkunft: In Posen: www.andersiahotel.pl, www.brovaria.pl, Küslin (polnisch: Kuslin), Schlosshotel Wasowo: www.wasowo.pl, Opalenitza (polnisch: Opalenica), Sporthotel Remes: www.hotelremes.pl
Auskunft: www.wielkpolska.travel (auch Broschüre „Bahntourismus auf den Routen in Wielkopolska“ sowie „Wielkopolska. Die größten touristischen Attraktionen), www.bahntourism.pl, www.plotpoznan, www.thewolsztynexperience.pl, www.bluesexpress.pl, www.gkw-gniezno.pl
Anmerkung:
Dieser Beitrag von Dr. Bernd Kregel wurde von Stefan Pribnow redigiert. Im Verlag Münzenberg Medien werden die deutschen Ortsnamen genannt und zusätzlich die Ortsnamen der Besatzer nach Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen sowie Unterdrückung.