Graz, Steiermark, Österreich (MaDeRe). Evas Verführungskünste in allen Ehren! Aber womit hat sie es wirklich geschafft, ein gestandenes Mannsbild wie Adam gleich zu Beginn der Menschheitsgeschichte von seinen guten Vorsätzen abzubringen? Der saure Apfel, in den er beißen sollte, ist längst verbannt in den Bereich der Mythologie. Auch erwiesen sich die süßen Salzburger Nockerln, die ebenfalls als Anlass für den Sündenfall herhalten mussten, schon bald als der wenig überzeugende Wunschtraum eines ausgeprägten Lokalpatriotismus. Was aber war es dann?
Eine Antwort auf diese bislang ungelöste Frage aus dem theologisch-kulinarischen Grenzbereich könnte kommen aus Graz, jener steirischen Metropole, die sich nicht zufällig mit dem Ehrentitel einer „Genuss-Hauptstadt“ schmücken darf. Die Suche nach einer überzeugenden Erklärung führt hinein in die durch lange Tradition geweihten Zauberküchen kulinarischer Kompetenz, wie man sie mit einheimischer Hilfe schnell in der Stadt entdecken kann. Ein tastender Annäherungsversuch zwar, der sich dann aber urplötzlich wie in einer Kristallkugel verdichtet zu einer Klarheit der Erkenntnis, die selbst unter Genießern keinen Widerspruch duldet: „Es war der Kapaun!“
Umschmeichelt von himmlisch zartem Fleisch
„Ausgerechnet der Masttruthahn?“ mag dennoch jemand ungläubig einwenden. Wohl aber nur derjenige, dessen Zunge und Gaumen noch nie von dessen himmlisch zartem Fleisch umschmeichelt wurden. Wenn sich beispielsweise, nur fünf Gehminuten vom Kapaunplatz entfernt, einmal wöchentlich am Donnerstagabend in dem Traditionslokal „Der Steirer“ die Pforten des Paradieses noch einmal öffnen, hinter denen an gedeckten Tischen das Genussabenteuer zelebriert wird.
Und wären die saftigen Fleischstücke nicht bereits zuvor in der Küche von Geflügel-Spezialist Dominik Vögerl säuberlich tranchiert worden, der Erzengel Gabriel würde ungeduldig sein Flammenschwert zücken, um höchstpersönlich diese heilige Handlung zu vollziehen. Diesmal ganz gewiss ohne jene Risiken und Nebenwirkungen, die einst die gesamte Menschheit zu einer Schicksalsgemeinschaft von Sündern vereinte, die für diesen Urgenuss büßen musste. Hier und heute jedoch herrscht Genuss ohne Reue, wie das zustimmende Lächeln beweist, das nach dem letzten Bissen vielsagend über zufriedene Gesichter huscht.
Wollschwein auf Käferbohnen
Besonders eindrucksvoll weiß Kulinarik-Expertin Sigrid Rahm über die einschlägigen Vorzüge ihrer Stadt zu berichten. Bei einem „kulinarischen Rundgang“ durch mehrere Speisetempel macht sie sogar die unterschiedlichsten Gaumenfreuden in einem mehrgängigen Menü von verschiedenen Erlebnishorizonten aus erfahrbar. Angefangen auf dem deftigen Bauernmarkt nahe der Oper, wo inmitten von Steirischen Äpfeln, fleischigen Kürbissen und würzigem Krenn ein ofenwarmes Vulkanochinken-Croissant den Appetit anregt.
Als Vorspeise folgt – vorbei am legendären Operncafé – ein gedünsteter Saibling auf Spargel im modern gestalteten Altstadt-Restaurant „Aiola“. Und schließlich als Hauptgericht, im ehrwürdigen Hofkeller, der unwiderstehliche Braten vom Turopolje-Wollschwein auf einem Bett von Käferbohnen-Püree. Dann, als Abschluss, ein unübertroffenes Schokosoufflé mit Vanilleeis. Diesmal im Restaurant „Prato im Palais“, wo einst an herrschaftlichem Ort die Erfolgs-Autorin Katharina Pratobevera ihren über nahezu einhundert Auflagen hinweg gefragten Bestseller in Zeilen goss.
„Freundlicher Außerirdischer“
So ist es nicht verwunderlich, dass Graz sich als „Genuss-Hauptstadt“ einen Namen machte. Doch dann kam es einer Sensation gleich, als die UNESCO der Stadt den Titel einer „City of Design“ verlieh, als einziger in ganz Europa neben St. Etienne und Berlin. Der Urknall zu dieser Würdigung reicht jedoch bereits zurück in die Zeit, als sich Graz als „Europäische Kulturhauptstadt“ profilierte.
Besonders mit dem modernistisch wirkenden Kunsthaus auf der anderen Seite der Mur, das zunächst, wie Kunstexpertin Andrea Fian scherzhaft bemerkt, wegen seiner Ähnlichkeit mit einem Raumschiff als „Friendly Alien“ verspottet wurde. Doch inzwischen haben sich die Grazer nicht nur daran gewöhnt, sondern sehen in dem Gebäude auch einen Vorreiter, der Kultur in den unterschiedlichsten Ausprägungen auf das andere Flussufer hinüberzog und damit zur Auferstehung dieses einst vernachlässigten Stadtteils erheblich beitrug.
Diese Ansicht teilt auch Sigrid Alber, die als Stadtführerin die Umgestaltung der Mariahilfer Straße zu einem Design-Vorzeigeprojekt hautnah miterlebt hat: „Wir brauchen das“, so betont sie, „damit die Stadt lebenswürdiger wird“, und freut sich, dass es dazu gegenwärtig auch „einen politischen Willen gibt“. Design versteht sie dabei völlig zu Recht als „einen Prozess von Menschen für Menschen, der von innen kommen muss und nicht aufgesetzt sein darf“.
Kneipenkultur neben „Trash Design“
Bei dieser Entwicklung, so fügt sie hinzu, „sollten sich Kunst und Technik vereinen, um eine neue Kultur zu schaffen“. Und was bis heute dabei heraus kam, ist in der Tat bemerkenswert: Originelle Läden sprießen aus dem Boden, Straßenfeste werden organisiert, ganz zu schweigen von der Kneipenkultur, in der sich Lokale wie „Pierre’s Tango Bar“ oder „Die Scherbe“ an Originalität gegenseitig übertreffen.
Bemerkenswert sind auch die Sozialprojekte für Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen wie das „tag.werk“, wo die Mitarbeiter beweisen können, welche handwerklichen Fähigkeiten in ihnen stecken. Stolz verweist Praktikantin Stephanie auf die mehrere Wandreihen füllende Kollektion von Taschen, die – jede ein Unikat! – zurzeit ein absoluter Renner sind. Vielleicht sogar eine Überhöhung des „Trash Design“, das in anderen Läden Wegwerf-Utensilien der modischen Wiederverwendung zuführt.
Handwerker als Künstler
Ein ähnliches Konzept verfolgt Sigmund Benzinger in seinem Textilladen „Zerum“. Mit seiner Produktion in kleinen Auflagen integriert er, wie er betont, Handwerker nicht nur wieder in die Gesellschaft. Durch mehrfach im Jahr stattfindende Design-Wettbewerbe wertet er sie zugleich auf zu Künstlern, die sich mit ihren Produkten wie T-Shirts oder Radfahr-Gebrauchsgegenständen bei Touristen und regelmäßig vorbeischauenden Grazern bereits jetzt einen festen Platz gesichert haben.
Und dies sei nur ein Teil der Design-Entwicklung, der inzwischen die ganze Straße belebt.
So auch der „Kwirl“, der sich als Atelier für „Design – Geschenk – Souvenir“ besonders auf modische Lampenschirme spezialisiert hat. Nicht ohne Stolz führt Mitarbeiterin Kristine die dekorativ gestalteten Wunderwerke vor, die – glaubt man der begeisterten Nachfrage – ebenfalls eine Marktlücke füllen.
Erfolge im Design-Milieu
Künstlerisch geht es auch zu bei Selma Etareri, die in ihrem Atelier „Da Loam“ (Der Lehm) ebenfalls selbst Hand anlegt. In ihrer derben Arbeitsschürze führt sie die gerade fertig gestellten Tonarbeiten vor, die schon bald nach dem Brennvorgang als Keramik-Souvenirs Abnehmer unter den Ladenbesuchern finden sollen. Auch sie scheint sich mit ihrem Engagement in dem neuen Design-Milieu der Mariahilfer Straße zu fühlen wie ein Fisch im Wasser.
Doch darauf bezieht sich das neue „City of Design“-Markenzeichen der Unesco nicht allein. Auch die Altstadt gegenüber hat zugelegt und feiert mit dem wiedereröffneten „Kastner & Öhler“ das „Schönste Kaufhaus der Welt 2011“, aus dem Stand ein riesiger Erfolg. Doch das nicht allein. Hinzu kommt, wen wollte es nach Betreten des Modetempels verwundern, der „Preis der deutschen Textilwirtschaft“ und obendrauf noch ein „Designpreis für die Eröffnungsveranstaltung“. Voilà!
Ausblick auf das Dächermeer
Und als wäre dies noch nicht genug, zieht es die Freunde ausgefallener Architektur hinauf auf die Dachterrasse, die bei angenehmer Gastlichkeit den Blick freigibt auf das rote Dächermeer der Stadt. Besonders von einer kleinen Holzrampe aus, die frei schwebend die Straßenschlucht darunter erkennen lässt und daher beim Betreten zunächst ein wenig Mut erfordert. Doch welch eine Atmosphäre, wenn von hier aus der Blick auch nach oben schweift zum riesigen Uhrturm auf dem Schlossberg als dem Wahrzeichen der Stadt.
Von hier aus präsentiert sich die steirische Hauptstadt in der Tat wie aus dem Ei gepellt. Und lässt erahnen, dass „Graz sich gegenwärtig zu der am meisten wachsenden Region in Österreich“ entwickelt hat. So Stadtratsmitglied Dr. Peter Piffl-Percevic, der besonders stolz ist auf die hier ansässige Design-Universität mit dem Studiengang „Industrial Design“. Es empfiehlt sich, die nach Wien zweitgrößte Metropole Österreichs auch in Zukunft im Auge zu behalten.
Fotoreportagen
Mehr Bilder in der Fotoreportage: Das Kunsthaus Graz und der Fotoreportage: Graz, Stadt der Steiermark von Dr. Bernd Kregel.
Reiseinformationen „Graz“:
Anreise: Mit dem Auto aus Deutschland über Linz oder Salzburg; für Pkw, Motorräder und leichte Wohnmobile gilt die Vignettenpflicht. Mit dem Zug gibt es Direktverbindungen von München, Stuttgart, Wien, Linz, Salzburg u.a.; Flugverbindungen ab Wien, Düsseldorf, Stuttgart; ab Frankfurt, München
Reisezeit: Graz als Reiseziel ist das ganze Jahr über lohnend. Besonders eindrucksvoll jedoch ist die warme Jahreszeit, vor allem Frühling und Herbst
Unterkunft: Graz verfügt über eine Fülle empfehlenswerter Hotels: Hotel Wiesler, hotelwiesler.com, Hotel Weitzer, hotelweitzer.com, Schlossberghotel, schlossberg-hotel.at, Palais-Hotel Erzherzog Johann, erzherzog-johann.com,
Essen und Trinken: Der Steirer, der-steirer.at; Carl, carl-restaurant.at; Aiola-Gastronomie, www.aiola.at, Hofkeller, peppino-hofkeller.at; Operncafé, operncafe.at
Auskunft: Tourismus Information, info@graztourismus.at; Kulinarik, genusshauptstadt.at; Design, cis.at
Reiseagentur/-veranstalter: Retroreisen