Piroggen in Ostpreußen und Paddeln auf der Krutinna – grün-blaue Perlen und verträumte Klänge in Masuren

Paddeln auf der Kruttinna (polnisch Krutynia) dem masurischen Amazonas. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walther

Galkowen-Nikolaihorst, Masuren, heute Galkowo, Polen (MaDeRe). Das ferne Finnland gilt „nur“ als „Land der tausend Seen“. Masuren indes hat über 3000 zu bieten. Neben weit weniger Anreisekilometern und einer abwechslungsreicheren Natur.

Genussvolle Stille. Ahnungsvoll der tiefrote Himmel über schwarzer Waldkulisse. Fast zu schade um die Schüsseln dampfender köstlicher Piroggen auf dem rustikalen Holztisch. Die mit Fleisch gefüllten Teigtaschen, ein polnisches Nationalgericht, geraten zur Nebensache. Kein Wunder, dass alle immer langsamer kauen, der Blick versonnener wird.

Aus dem Schornstein des gräflichen Jagdhauses von Galkowo, dem früheren Galkowen, weht der Duft von brennendem Kaminholz herüber und vermischt sich mit Wiesenkräuteressenzen, die Pferde auf der Koppel nebenan schnauben und zwei Störche klappern vom Dach des Gestüts. Emotionen pur. Eine, wie es scheint, geradezu perfekte Inszenierung. Journalist Klaus Bednarz mit Erinnerungen aus frühen Kindertagen im benachbarten Ukta, hat dazu seine eigenen Empfindungen: „Masuren – allein der Klang des Namens weckt in mir den Wunsch, sofort wieder dorthin aufzubrechen“.

Auf die sanfte Tour

Die kleine Gruppe ist ihm aus dem gleichen Grund zuvor- und jetzt angekommen im südlichen Teil des ehemaligen Ostpreussen. Am Rande der Puszcza Piska, dem „Großen Dickicht“, durchzogen von einem engmaschigen Netz einsamer Wanderwege. Bis 1945 hatte die Johannisburger Heide als undurchdringlicher und hoch stehender Urwald den Ruf einer „Visitenkarte Masurens“.Diese Rolle haben heute Seen und Flüsse übernommen: Perlen im Grün-Blau der Seenplatte. Paradiesische Naturschönheiten, die enorme 13 Prozent der Gesamtfläche Masurens bedecken. Sie wollen erpaddelt werden – auf die sanfte Tour.

Reiseleiter Oskar, ausserhalb der Sommersaison Lehrer in Olecko/Treuburg, macht es seinen acht Hobbykanuten am Anleger in Krutyn/Krutinnen gutgelaunt vor: wie man problemlos ein- und aussteigt, ohne umzukippen. Vier Zweier, die per Kleinbus mit Anhänger aus Galkowo herangekarrt worden sind, sollen die Truppe aufnehmen. „Ziemlich schmal“, findet Julia skeptisch, als sie versucht, sich auf der Sitzschale niederzulassen und ihre Beine im Vorschiff zu sortieren. Als dann aber eine Kinderschar in ihrer Bootsflottille vorbeigleitet, ist die anfängliche Scheu verflogen. „Kinderleicht!“, strahlen Gerdi und ihre Freundin Angela nach den ersten Versuchen, „auch wenn wir unsere Bewegungen noch koordinieren müssen“.

Amazonas Masurens

Schließlich erfasst die schwache Strömung die Kunststoffgefährte. Damit hat sie die Königin der masurischen Flüsse aufgenommen. Bei rund 140 Kilometern Länge gilt die Krutinna/Krutynia als eines der schönsten Paddelreviere Europas. „Die Strecke berührt zehn Naturschutzgebiete, ist durch 20 Seen miteinander verbunden“, weiß Oskar, unser wandelndes Lexikon. „Ihr werdet ´s sehen, eine gemütliche 14-Kilometer-Tour heute“, beruhigt der Zwei-Meter-Mann vom Führungsboot aus, „bis nach Ukta sind ´s ungefähr fünf Stunden. Mit Picknick- und Badepausen natürlich“. Sein Zeigefinger fährt über die topografische Karte. Der 27-Jährige erklärt die Geländeformen der Grundmoränenlandschaft. Die Neu-Kanuten sind froh zu wissen, dass die Strömung nur abschnittsweise stark ist. Unterhalb von Ukta fließt die Krutynia sehr langsam in einem sumpfigen Tal mit urwüchsigem Wald. Ihre durchschnittliche Tiefe, so ist zu hören, beträgt zwei bis drei Meter, in Flussschleifen sogar bis zu sieben Meter.

Mäander um Mäander schlängelt sich der kristallklare Fluss durch einen Tunnel aus sattgrünem Mischwald. Die Strömung spart Muskelkraft. So lässt sich entspannter Schauen. Stellenweise verengen umgestürzte Bäume, auf denen sich Kormorane, Enten und Haubentaucher sonnen, den Flusslauf. „Amazonas Masurens!“, ruft Hasso begeistert. Die Wasserpflanzen scheinen sich vor seinen Worten zu verneigen – in Fließrichtung. Aenne lässt ihr Paddel fahren und kramt ein Büchlein hervor. Der Botanikführer ist ihre Bibel. Alles, was sie nicht kennt, muss sie erst mal bestimmen und mit Oskar diskutieren. „Vorsicht, fasst die Krebsschere nicht an“, warnt sie vor einer gezähnten Pflanze, „die Blätter reißen schmerzhafte Wunden!“

Malerische Naturidyllen

Malerisch blitzt die Schönheit Masurens immer wieder auf. Wenn zum Beispiel hinter einer Schleife mitten im größten Wald Polens, der Johannisburger Heide, Hufe klappern und durch die ufernahe Allee aus uralten Bäumen eine Kutsche zockelt; ganze Pulks von Störchen, ostpreussische Symbolvögel, in Feuchtwiesen nach Beute für ihre Jungen stochern; Grillen unermüdlich zirpen; Sprosser die „Nachtigall des Tages“ geben; ein goldgelbes Getreidefeld in fächelndem Juliwind wogt. Stereotype? „Keineswegs“, antwort Christoph spontan, „sondern unvergessliche Eindrücke, die ich so intensiv noch nicht erlebt habe“. Mit weiteren fluss-, see- und waldidyllischen Steigerungen während der nächsten beiden Tagestouren um 15 Kilometer Länge.

Unterhalb des „Ölbergs“ in Ukta schieben sich die Kajaknasen knirschend in den Ufersand. Hier verbrachte Klaus Bednarz auf dem Hof von Großvater Bednarz, der im Familiengrab am Waldrand bei Galkowo ruht, seine masurische Kindheit.

Ende unseres ersten Krutinna-Tages. Das abkühlende Bad im Fluss zusammen mit der ausgelassenen Dorfjugend ist für jeden ein Muss.

Gräfliche Liebe

Renate Marsch-Potocka hat sich ganz in Galkowo verliebt – und ist geblieben. Während die Funken des Lagerfeuers in den nachtblauen Himmel schießen und mit den Sternen konkurrieren, erzählt die ehemalige dpa-Korrespondentin in Warschau aus ihrem bewegten Leben und der Geschichte des Gutshofes. Die bürgerliche Brandenburgerin mit immer noch unverkennbar berlinischem Idiom ist durch Heirat zur Gräfin geworden. Ihr Sohn Alexander, Architekt und Multitalent, hat das Gut als Landgasthof in altmasurischem Stil rekonstruiert. Sogar das ehemalige Jagdhaus derer von Lehndorff in Steinort am Mauersee abgetragen und in Galkowen, wohin ihn die Liebe zu einer Australierin auf dem benachbarten Gestüt verschlug, wieder aufgebaut. Heute ist das ansehnliche Holzhaus Mittelpunkt mit urigem Gastraum, Küche und dem „Salon Gräfin Dönhoff“. Sie habe, sagt Renate, zu Marion Dönhoff und ihrem masurischen Schicksal eine ganz persönliche Beziehung. Im Oberschoss des Jagdhauses hat sie ein Archiv eingerichtet, wo Bild-, Text- und Tondokumente der früheren „Zeit“-Herausgeberin aufbewahrt sind. „Ich möchte damit an die unermüdliche Vorkämpferin für die deutsch-polnische Verständigung erinnern“, erklärt Gräfin Marsch-Potocka. Den Dönhoff ´schen Wahlspruch „Lieben, ohne zu besitzen“ habe sie sich auch zueigen gemacht und kein Problem mit dieser Gegenposition zur Vertriebenen-Idylle: „Das wird einem in Polen hoch angerechnet“.

Historischer Bogen

„Galkowo“, erzählt die Gräfin, „ist eine der am besten erhaltenen Siedlungen im Waldkomplex der Puszcza Piska“. Das Dorf wurde, erfährt die andächtig lauschende Gruppe, wie auch das nahe Wojnowo/Eckertsdorf im 19. Jahrhundert von russischen Altgläubigen gegründet, die sich gegen Reformen des Patriarchen gewehrt hatten.

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sprach die überwiegend evangelische Bevölkerung im südlichen Ostpreussen masurisch, ein altertümliches Polnisch durchsetzt von deutschen Wörtern. Den Begriff „Masurenland“ prägten deutsche Historiker im 19. Jahrhundert. Das jetzige Masuren sollte eher als geografisch-historisches Gebiet im Rahmen der Masurischen Seenplatte verstanden werden.

Ihre attraktiven Formen verdankt sie allein dem nacheiszeitlichen Landschaftsbild. So referiert die Försterin am nächsten Tag in Spychowo am Mucker-See. Bis „nach Hause“ sind es zehn fußläufige Kilometer durch zwei Reservate, vorbei an einem kleinen, fast kreisrunden Hochmoorsee mit schwimmenden Pflanzeninseln und von Bibern gekappten Birken.

Gegen Abend verschmilzt die dunkle Wand des Waldes mit düsteren Wolkentürmen. Bedrohlich zieht ein Gewitter vom Mokre, dem früheren Mucker-See, herauf. Es kracht, blitzt und donnert, dass es sich gewaschen hat. Regen peitscht die Fenster. Der Kamin knistert vielsagend. Von Ukta her heult plötzlich eine Sirene, minutenlang auf- und abschwellend. Dann durch die Allee jagende Martinshörner. Irgendwo hat der Blitz eingeschlagen. Es brennt. „So etwa muss es hier 1945 geklungen haben“, schlägt die Gräfin den historischen Bogen, „Artilleriegedonner, Feuer und noch viel schlimmere Dinge passierten, als die Russen einmarschierten“. Angela liest aus den Erinnerungen der Dorfschullehrer-Frau – und bricht nach kurzer Zeit ab: „Zu grausam, das möchte ich jetzt niemandem antun“.

Das Gewitter verabschiedet sich grollend. Typisches masurisches Sommertheater und ziemlich launisch, weil hier trockenes kontinentales und feuchtes ozeanisches Klima zusammenstoßen.

Maritime und menschliche Raritäten

Die Gruppe zieht weiter – nach Wizna. Das liegt rund 100 Kilometer südöstlich von Galkowo. Per Kleinbus „nie ma problemu“, kein Problem, wie man gern in Polen sagt.

Bei Pisz/Johannisburg dehnt sich der Rós/Rosch-See. Stopp in einer Marina: alles überragend zwei Masten. Sie gehören zum Zweimaster „Smuga Cienia“ – mit Heimathafen Göttingen. Eine maritime Rarität im Herzen Masurens. Wie der bärtige Skipper sagt, kann man seine schmucke Brigantine für eine See-Fahrt chartern und sogar selbst mit Hand anlegen.

Wizna, ein langgestrecktes 1000-Seelen-Dorf etwa 60 Kilometer vor Bialystok, schmiegt sich an das Steilufer der Narew am Rande der Biebrza-Sümpfe. Mit 60.000 Hektar beansprucht der Biebrzanski Park Naradowy den Titel „größter aller 22 polnischen Nationalparks“.

Im Zweiten Weltkrieg war das Nadelöhr am Narew-Übergang hart umkämpft. Heute erinnern nur noch Bunkerruinen auf einer Anhöhe an die mörderischen Ereignisse 1939.

Mitten im Wald, kilometerweit entfernt von der nächsten Ansiedlung, kann man in der Einsiedelei Budy eine menschliche Rarität antreffen: Krzysztof Kawenczynski, lebende Legende und bekannt als „König der Biebrza“.

Der hagere, wettergegerbte 58-Jährige packte vor 17 Jahren in Warschau seine Koffer, um in die Sümpfe zu ziehen. „Weil mein Antiquariat nicht mehr lief und die Ehe in die Brüche ging“, beantwortet er verlegen lächelnd auf Englisch die oft gestellte Frage nach den Gründen. Sein windschiefes Holzhaus ist vollgestopft bis unter die Decke mit Erinnerungsstücken: Büchern, Figuren, Musikinstrumenten, Bildern, Spielzeug, Gebrauchsgegenständen aus der Region. Verwirrende Bilder. Er teilt sein Einsiedlerleben mit Dutzenden von Hunden und Katzen. Auf der Weide fristen Kühe und Pferde ihr Gnadenbrot. So mancher Vogelfreund, der zum Tanz der Kraniche oder zur Balz der Birkhühner in die Gegend kommt, besucht auch den freundlichen Krzysztof. Der lädt dazu ein, auf seiner Wiese zu zelten, abends mit ihm am Feuer zu sitzen und nachts Elche zu beobachten. Die Chance, hier auf einen Menschen zu treffen, ist geringer, als einem der 200 Biebrza-Elche zu begegnen. Drei zeigen sich.

Einzigartiger Wildfluss Biebrza

Die Biebrza ist tatsächlich der einzige völlig naturbelassene Wildfluss Europas, der nicht nach menschlicher Pfeife tanzt, sondern nur macht, was die Natur will. Nördlich von Wizna mündet der 164 Kilometer lange Fluss in den Narew.

Per Fahrrad werden die beiden Flusstäler erkundet: hügelauf, hügelab, auf kräftezehrenden Sandwegen und alles durchschütteldem Kopfsteinpflaster. Der Zarenweg, eine historische Straße zur schnellen Verlegung von russischen Truppen, erschließt den einzigartigen Nationalpark. Von 280 in Europa brütenden Vogelarten sind 253 hier zu Hause. Darunter auch die äußerst seltenen und bedrohten Wasserrallen und Kampfläufer samt 18 Prozent der weltweit vorhandenen Seggenrohrsänger. Zenon Borawski, in dessen Pension mit unübertroffen guter polnischer Küche wir übernachten, kennt sich aus. Der Landwirt und Ornithologe berichtet vom beeindruckenden Schauspiel riesiger Vogelschwärme, dem Frühjahrshochwasser, das die Biebrza kilometerbreit unter Wasser setzt. Bei Sonnenuntergang nimmt er die Gruppe mit auf eine Bootsfahrt zur Biberbeobachtung.

Am besten genießt man die Biebrza, den Biber-Fluss, allerdings vom Kajak aus: Von Brzostowo nach Wizna sind es rund 20 Kilometer. Ein geruhsames, völlig ungestörtes Gleiten durch Wiesen und Weiden, Schilfwälder und Seerosenfelder. Wobei die Kanuten Beine und Seele baumeln lassen – wenn man vor entspanntem Staunen nicht das Steuern vergisst. Dann nämlich landet man sanft rauschend im Röhricht. Bilder, die noch lange im Gedächtnis bleiben werden.

Reisehinweise

Reiseziel: Masuren ist eine Region der im Norden Polens gelegenen Woiwodschaft Ermland-Masuren und umfasst den südlichen Teil des früheren Ostpreussens. Auch das „Land der 3000 Seen“ genannt, ist Masuren eine der letzten naturnahen Landschaften Europas.

AnreisePer Bahn nach Warschau (Nachtzug ab Berlin); von dort dauert der Bustransfer rund vier Stunden.

Literatur: Klaus Bednarz: Fernes nahes Land – Begegnungen in Ostpreussen; Arno Surminski: Jokehnen oder wie lange fährt man von Ostpreussen nach Deutschland; Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken; Hans Graf von Lehndorff: Ostpreussisches Tagebuch; Marion Gräfin Dönhoff: Kindheit in Ostpreussen; Polyglott on tour: Polen mit Flipmap; Touristenkarte „Große Masurische Seen“ 1:100.000

Anmerkung:

Vorstehender Artikel von Dr. Peer Schmidt-Walther wurde unter dem Titel „Wasseraktives, sanftes Masuren – Grün-blaue Perlen und verträumte Klänge“ am 26.7.2009 im WELTEXPRESS erstveröffentlicht.

Vorheriger ArtikelAufwind für Fraport in Zeiten der Krise?
Nächster ArtikelAuf königlich-englischen Wasserpfaden – ein Hausboot-Törn auf der Themse