Berlin, Deutschland (MaDeRe). „Wie bitte – eine Kreuzfahrt in der Schweiz“, fragt der reiseerfahrene Kollege, „willst du mich auf den Arm nehmen?“ Alles andere als das, kann er beruhigt werden. Spätestens am Ufer des Murtensees, rund 25 Kilometer westlich der Hauptstadt Bern, geht ihm ein Licht auf. Am Steg des Hotels „Bad Murtensee“ liegt der 40 Meter lange Beweis: das Kabinenmotorschiff ATTILA, an dessen Heck stolz die rote Flagge mit dem weißen Kreuz im Alpenwind flattert.
In den nächsten dreieinhalb Tagen sollen die nach den Orten Murten, Neuchatel/ Neuenburg und Biel benannten Seen und ihre Uferumgebung, das Drei-Seen-Land, erkundet werden. Drei von insgesamt rund 1500.
Man nehme neun Container
Flusskreuzfahrtschiffe mit Heimathafen Basel schippern bis an die Ostseeküste, „aber eine mehrtägige Kreuzfahrt mitten im Land der Eidgenossen bietet nur die ATTILA der Reederei Vully AG an“, betont Richard Huni, Präsident des Verwaltungsrats nicht ohne Stolz.
Beim mittäglichen Empfang in der Captains Lounge erfährt man von Kapitän René Götschi, einem wettergegerbten, gestandenen Binnenschiffer, mehr über das nach dem Hunnenkönig benannte Schiff: 1987 im holländischen Slijdrecht gebaut – als Arbeits- und Frachtschiff für Häfen an der Nordsee, 1999 sogar im mecklenburgischen Wismar an der Ostsee. Anschließend im Einsatz als Partyboot bis 2018, entdeckte sie die Reederei Vully und entschied sich, das hässliche graue Entlein nach einem Facelifting und ohne Namenswechsel in ein Kabinenmotorschiff für nur 18 Gäste verwandeln zu lassen. Wie das geht? „Man nehme neun 20-Fuß-Container, baue die zu je einer 14-Quadratmeter-Kabine mit Bad und Balkon um, gestalte sie modern, mit stilvollen Akzenten und komfortabel“, bringt Richard Huni das Endprodukt auf den Punkt. Das Ergebnis, ein Boutique Boatel – in den Schiffspapieren heißt es völlig unromantisch „ Fahrgastschiff mit Übernachtungsmöglichkeiten“ -, kann sich sehen lassen. Aber was das ist? Zumindest erst mal ein kleines Kreuzfahrtschiff, das auch gechartert werden kann für geschäftliche und private Veranstaltungen aller Art. Es sollte dann auch den Charme einer privaten Yacht versprühen und Landgänge in pittoresken Häfen anbieten. Wobei das Rahmenprogramm individuell festgelegt werden kann.
Die Möglichkeiten, etwas zu unternehmen, sind vielfältig. Wobei keine teuren Ausflüge gebucht werden müssen, sondern die lokalen Sehenswürdigkeiten bequem fußläufig erreichbar sind.
Persönliches Wohlergehen obenan
Mit einem Glas golden funkeldem Pino Gris aus heimischem Anbau in der Hand, einem leichten Salat vom Büffet auf dem Teller und einem sonnigen, bequemen Sofa-Plätzchen auf dem weiten Oberdeck heißt es „Leinen los!“ und hinaus auf den Murtensee. Im Rücken eine markante Alpenkette, voraus das sanfte Jura-Gebirge. Durch den Broye- und Zihlkanal mit Kopfeinziehen unter den Brücken steuert Etienne Perrenoud, Zweiter Schiffsführer und Matrose, im Zivilberuf Werbefotograf, den Bielersee an.
Vorbei an sattgrünen Gemüsefeldern, ansehnlichen Guthäusern und Industrieanlagen. Für die Herstellung von Baustoffen liegt eine ganze Flotte von – das hat hier niemand vermutet – Binnenfrachtern und Baggern an der Pier. Seefahrt auf schweizerisch, „wobei der 38 Kilometer lange und bis zu 135 Meter tiefe Neuchateler See bei Nordost- oder Südwestwind auch ganz schon ruppig sein kann“, erklärt René und lacht, „da wird manch einer auch seekrank“. Cornelia Koehli, die welterfahrene Stewardess, und ihre Kollegin der zweiten Schicht, Gabriella Büschi, werden das zu verhindern wissen in ihrer ständigen Sorge um das persönliche Wohlergehen ihrer Gäste. Dazu gehört im Sommer bei ruhigem See manchmal auch ein Stopp, um von der Badeplattform in das glasklare warme Wasser zu hüpfen oder sich im Stand-up-Paddeln zu versuchen. Ein Verwöhnprogramm nach dem ATTILA-Motto: „Einfach sein – entschleunigen, entdecken und genießen“.
Wellen klopfen an die Bordwand
Anlegen in Le Landeron. Nach einem Spaziergang durch die Felder am Fuße des Jura erreicht man die Altstadt mit ihren bunten mittelalterlichen Häusern, den Stadttoren, dem von dichtem Baumbestand gesäumten Anger. Mit dem Stadtführer taucht man ein in die wechselvolle Ortsgeschichte. Und schließlich in das von moderner Kunst geprägte und so nicht erwartete Restaurant „L´Escarbot“. Ein Gourmettempel mit Sternen, den auch Gäste aus weiter entfernteren Regionen ansteuern. Das mehrgängige Menü, darunter auch die seefrische Delikatesse Nummer eins Egli-Filets in Butter gebraten oder geräuchert, überzeugt jeden in der Runde. Natürlich wird auch der edle lokale Tropfen „Chasselas Sur Crausa“ probiert und für äußerst gaumenfreudig befunden. So beseligt bleibt nur ein Kleinbus, um die schwankenden Genießer wieder an Bord zu schaffen. Die Schiffsbar ist immer offen für alle, die noch einen Schlummertrunk möchten. Während die Wellen des Bielersees an die Bordwand klopfen und den Balkonvorhang bauschen, stellt sich schnell schlafmüde Bettschwere ein.
In gemütlicher Fahrt wird während des Frühstücks die St. Peterinsel angesteuert mit ihrem malerischen Klosterhotel inmitten von Wald und Weinbergen. Hier hat sich schon der französische Naturphilosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau 1765 wohlgefühlt. Bei einer kleinen Wanderung erschließt sich dem Besucher die Abgeschiedenheit des historischen Eilands, das bereits zu Römerzeiten als Kultstätte galt.
Hoch über dem Meeresspiegel
Einmal quer über den See erreicht ATTILA das Örtchen Ligerz. Mit der Standseilbahn geht es aufwärts ins Berner Jura nach Prèles auf 822 Meter über dem Meeresspiegel. Belohnt wird man mit einem weiten Rundblick über den Bielersee samt modellkleiner ATTILA und Peterinsel hinüber zu den scheinbar nahen Alpen. Auf bequemen Wegen, vorbei an der Wallfahrtskirche, in der auch der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt 1946 heiratete, bummeln die Seenfahrer durch Weinberge, die gerade von schwitzenden Studenten abgeerntet werden. In einer Stunde erreicht man wieder sein schwimmendes Zuhause auf Zeit – immer wieder unterbrochen durch Vitamin C-reiche Trauben-Naschpausen.
Kurs Zihlkanal, heißt es dann, hinaus auf den Neuchateler See. Sein südöstliches Ufer sieht man nicht, und man kommt sich vor wie auf hoher See. Auch beim Anblick der gepflegten seetauglichen Linienschiffe, deren Typhonbässe vor der Hafeneinfahrt der größten Stadt der Region dröhnen, die von 1707 bis 1848 sogar preußisch war und heute Hauptstadt des gleichnamigen Kantons ist. Star unter den Schiffen ist der schmucke Raddampfer NEUCHATEL, der frisch restauriert seinen Dienst im Drei-Seen-Land versieht und mit seiner satten Pfeife auch Schwerhörige aufschrecken kann. Aber auch die fast 100-jährige MURTEN, 1925 in der Hansestadt Stralsund als HINDENBURG an der Ostsee gebaut, gehört zu diesem exklusiven Schiffs-Zirkel.
Der Touristenzug schleppt seine Waggons samt ATTILA-Gäste durch die Altstadt hinauf zur Kollegiatskirche. Wiederum mit atemberaubenden Blick auf die zu Füßen liegenden Dächer und das Schloss. Als die Sonne hinter dem Jura abtaucht, erglühen die schneebedeckten Bergketten weit hinter dem gegenüber liegenden Seeufer. „Fast schon kitschig“, meint jemand und schießt Fotos, „wie sie mein Apparat noch nicht gespeichert hat“.
Zwischen Weinstöcken und Schilfdickicht
Den Abend genießen einige in urgemütlichen Altstadtkneipen, andere bleiben an Bord, um bei Wein und Snacks vom Sonnendeck aus den Flaneuren auf der Uferpromenade zuzuschauen und später in die Sterne zu gucken.
Ganz im Zeichen der Natur steht der nächste Vormittag. Nach dem Frühstück im Hafen quirlt ATTILA mit seinen Schottelantrieben und Bugstrahlruder wieder den See auf und macht nach der Überfahrt am Steg des Naturschutzgebietes Cudrefin am südwestlichen Seeufer fest. Im BirdLife-Naturzentrum La Sauge geht es auf die einstündige Pirsch. Und tatsächlich: Ein bunter Eisvogel schwirrt kolibriartig an uns vorüber ins Schilfdickicht. Über uns trompeten Kraniche. Nachdem der Spiegel aller Seen aus Hochwasserschutzgründen reguliert wurde, konnte sich hier eine einzigartige schützenswerte Flora und Fauna entwickeln.
Der Nachmittag des letzten Seetages steht ganz im Zeichen von Winzer-Familie Simonet in Motier, deren Weine berühmt sind. Nicht nur das: Der Hausherr ist ein ausgesprochen begnadeter Pädagoge, der seine Produkte vom Weinstock zum Probieren anbietet und auf schlichten Papptafeln statt Notebook bühnenreif äußerst temperamentvoll und humorig zu erklären weiß. Auch das ein Genuss, ebenso wie der Speckkuchen von Madame, den sie noch warm zu den Proben serviert. Das Schweizer Fernsehen hat hier schon gedreht und die Werbetrommel gerührt.
Wie es sich gehört für eine Kreuzfahrt: Der letzte Abend an Bord schließt traditionell mit dem Captains Dinner ab. Mehrgängig, zubereitet im nahen Hotel „Bad Murtensee“, wo wieder angelegt worden ist. Angenehm locker der Verlauf und ohne steifes Zeremoniell. Was der ATTILA-Philosophie nicht entsprechen würde.
„Ihr kommt alle wieder“, beschließt Kapitän René seine Rede, „aber ein bisschen plötzlich!“, wie auf schweizerisch liebevoll die Einladung fürs nächste Jahr gemeint ist.
Reisehinweise:
MS ATTILA, Bauwerft Slijdrecht, Holland; Baujahr: 1987; Typ (urspünglich: Binnenfrachtschiff, auch als Arbeitsschiff mit Bugklappe im Einsatz, u.a. auf Nord- und Ostsee); 1999: Partyboot auf den Jura-Seen; 2019-2020 Umbau zum Boutique-Boatel für Reederei Vully; Tonnage: 240 t; Länge: 40 m; Breite: 8 m; Tiefgang: 1,30 m; 2 x Deutz-Generatoren 350 kW, 2 x Schottel-Antrieb 175 kW, 2 x Bugstrahlruder 170 kw
Anmerkung:
Die Recherche wurde von der Reederei Vully AG unterstützt.
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