Jazz unter Palmen – Miamis afroamerikanischer Stadtteil Overtown entdeckt seine Geschichte

Overtown, Florida, USA.
eine Straße in Overtown. © 2018, Foto: Rüdiger Bismark

Overtown, Miami, Florida, USA (MaDeRe). Overtown ist erstaunlich ruhig. An einem beliebigen Vormittag sieht man wenige Fußgänger und viele Baulücken, deren spekulierende Besitzer auf teurere Zeiten warten. In der Luft liegt das das monotone Rauschen nahegelegener Highways. Kaum zu glauben, dass es an diesem Ort mal ein quirliges Nachtleben gab.

Overtown ist ein Stadtteil von Miami, nördlich von Downtown mit seinen glitzernden Wolkenkratzern gelegen. „Going over town“, sagte man, wenn man hierher wollte – daher der Name. In Zeiten der Rassentrennung war Overtown das Herz der schwarzen Community in Südflorida, das „Harlem des Südens“.

Das historische Overtown existierte, bis in den Sechzigern die Betonsäulen für zwei Highways durch das Gebiet gerammt wurden. Daran zerbrach eine lebendige Nachbarschaft, deren Entstehung bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichte.

Als 1860 die Sklaverei auf den Bahamas abgeschafft wurde, emigrierten viele Insulaner nach Key West, das Zentrum von Floridas südlicher Inselkette. Dort machten sie gestrandete Schiffe flott, ein Geschäftszweig mit großer Nachfrage. Später fanden Schwarze von den Bahamas und auch aus den Südstaaten Arbeit beim Bau der Eisenbahnlinie, die Miami an den East Coast Railway anschloss. Mit deren Inbetriebnahme 1898 kam der Tourismus ins Rollen.

Overtown, Florida, USA.
Das Overtown Performing Arts Center. © 2018, Foto: Rüdiger Bismark

Während der Ära der Rassentrennung war Overtown ein Ghetto, geplagt von Armut und Kriminalität. Eine von Gangs umkämpfte Straße trug ihren Spitznamen „Bucket of Blood“, also „Blut-Kübel“, zu recht. Nach Einbruch der Dunkelheit durften die Schwarzen ihren Bezirk nicht mehr verlassen. Viele „Towners“ lebten in schäbigen Hütten, ohne Strom und Wasser. An den Bahngleisen gab es Bordelle; bequem zu erreichen von der „weißen“ Seite der Stadt.

Doch inmitten widriger Umstände erlebten Jazz und Blues eine Blüte. Zentrum des Entertainment war die Zweite Avenue, „Little Broadway“ genannt, wo sich reihten sich Kneipen, Restaurants und Bars aneinander reihten. Mittendrin das Lyric Theater, eine Show-Bühne mit 400 Sitzplätzen. Freitags trafen sich Musiker von den Bahamas unter freiem Himmel, um feurigen Calypso zu spielen. Und in den frühen Fünfzigern wurde Bob’s Record Shop eröffnet, der die neuesten Hits aus „Blues, Jazz, Bebop, Calypso, Spiritual and Popular“ anpries, einer der ersten unabhängigen Plattenläden außerhalb der großen Musikzentren.

Sam Moore und Dave Prater, die später das Soul-Duo Sam & Dave bilden sollten, wuchsen in Overtown auf. Die Sänger Sam Cooke und James Brown ließen sich hier nieder; ebenso Browns musikalischer Direktor, der Jazz-Saxophonist Pee Wee Ellis. In Overtown wurde Hank Ballards Originalversion von „The Twist“ auf Schallplatte gebannt, die später in Chubby Checker zu Ruhm verhelfen sollte. Und Ray Charles machte hier seine erste Tonaufnahme.

Ältere Anwohner erinnern sich wehmütig an eine Zeit, in der an jeder Straßenecke Musik erklang. Overtown war ein wichtiger Stop auf dem Chitlin Circuit, der landesweiten Tournee-Route schwarzer Musiker. Aber auch Musiker und Fans weißer Hautfarbe fanden sich hier gerne ein. Das unterlief die offizielle Gesetzgebung der Rassentrennung, die im Süden besonders streng gehandhabt wurde.

Nur wenige Meilen liegen zwischen Overtown und Miami Beach, wo landesweit gefeierte Jazzkünstler in den „weißen“ Strandhotels auftraten. Musiker wie Louis Armstrong, Count Basie, Cab Calloway, Nat King Cole, Duke Ellington oder Ella Fitzgerald traten hier auf. Übernachten durften ihrer Hautfarbe wegen nicht in Miami Beach. Allabendlich machten sie auf den Heimweg über die Bahngleise nach Overtown, wo es bei Jam-Sessions erst richtig zur Sache ging.

Die Jazz-Stars holten Overtowns Musiker in ihre Bands und ließen sich von lokalen Einflüssen inspirieren. Doch nur selten wurden die einheimischen Talente überregional bekannt. Sie waren eher Live- als Studio-Musiker; zudem lagen die Zentren der Plattenindustrie weit entfernt. Viele Musiker dürften aber einfach nicht den Ehrgeiz gehabt haben, anderswo Karriere zu machen. Die kleine, feine Szene von Overtown war ihnen genug. Hier fanden sie Arbeit, Inspiration und Anerkennung, einen Sinn von Gemeinschaft.

Erst in den Siebzigern war ein Sound aus Miami landesweit zu hören, als das Label TK Records seinen Beitrag zum Aufkommen der Disco-Musik leistete. Zu jener Zeit aber existierte das alte Overtown schon nicht mehr.

In den Sechzigern zerstörte der Bau zweier Highways, die sich im Herzen von Overtown kreuzen, hunderte von Grundstücken. Von einst 40.000 Einwohnern durften gerademal 7.000 bleiben, unter denen nun Drogen und Verbrechen Einzug hielten. Das Lyric Theater wurde geschlossen, die Hotels abgerissen, Kneipen und Bars geschlossen.

Doch nun wendet sich das Blatt: Overtown nimmt Anlauf zu einem Gentrifizierungs-Aufschwung. Etliche Gebäude wurden unter Denkmalschutz gestellt, darunter das heute bescheiden anmutende zweistöckige Holzhaus des schwarzen Immobilien-Millionärs Dana Anderson Dorsey.

Overtown, Florida, USA.
The Historic Lyric Theater in Overtown. © 2018, Foto: Rüdiger Bismark

Auch musikalisch geht es wieder aufwärts. Es gibt ein jährliches Jazzfestival. Das Lyric Theater wurde restauriert und 2014 wieder eröffnet. In einem alten Kirchschiff, das nun vom Highway fast gerammt wird, befindet sich das Performing Arts Center, eine Mischung aus Kieztreff und Show-Bühne. Live-Jazz erklingt in neu eröffneten Lokalen, zum Beispiel donnerstags im Lil Greenhouse Grill, das verfeinertes Soul-Food anbietet.

Touristenbusse rollen durch die Straßen rollen. Interessanter ist jedoch eine Stadtführung zu Fuß, wie sie der Anbieter Chat-Tour im Programm hat. Die Teilnehmer wandeln auf den Spuren der einstigen Jazzkünstler und lernen Anwohner von heute kennen.

Bald können Touristen wieder in Overtown übernachten, steht doch das historische „Dunns-Josephine“-Hotel kurz vor der Wiedereröffnung. Jedes der plüschigen 16 Zimmer ist einem afroamerikanischen Künstler aus den Zwanzigern gewidmet, von Louis Armstrong bis Billie Holiday.

Anmerkung

Mehr Informationen zum Historischen Overtown auf der Heimatseite http://www.miamiandbeaches.de/places-to-see/historic-overtown im Weltnetz.

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