Und dennoch spukt’s in Tegel – Logbuch-Notizen während einer Havelseen-Kreuzfahrt

MS HAVELSTERN an seinem Liegeplatz in Brandenburg. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walter

Berlin, Deutschland (MaDeRe). Berlin – Stadt zwischen Flüssen und Seen, Stadt der Brücken (keine europäische bietet mehr, nicht einmal Venedig oder Amsterdam!) und Kanäle, Stadt der wasserfreudigsten Menschen. Schon vor 100 Jahren hieß es in der Wiener „Neuen Freien Presse“: „Der Berliner ist aber ein wahrer Wassermann, und wie versteht es der Berliner, dieses sein ureigenstes Element in allen möglichen Weisen für sich nutzbar zu machen!“

MS HAVELSTERN auf dem Tegeler See. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walter

Dampfer-Vergnügen

Wer nach Berlin kommt, nimmt die Spree nicht für voll, hat allenfalls vom Wannsee gehört und denkt dabei an einen populären Badeteich. „Pack die Badehose ein!“, besang das einst Cornelia Froboess. Zu weltweitem Ansehen haben es die Havel und die Spree nicht gebracht. Dabei verwöhnen diese Gewässer die vielgeplagte Stadt in der märkischen Streusandbüchse mit einer Landschaft, deren Vielfalt ihres gleichen sucht. Von den 891 Quadratkilometern Berlins sind 160 oder 18 Prozent Wald, 53 oder sechs Prozent Gewässer. Das macht ihr so leicht keine Stadt nach.

Eine Dampferfahrt über Flüsse, Kanäle und Seen gehört von jeher zu Berlin wie Molle, Korn oder Berliner Weiße. An dieser Tradition hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Berlin per Schiff – im Volksmund traditionsgemäß als „Dampfer“ bezeichnet – zu durchstreifen, ein echtes Erlebnis!

MS HAVELSTERN nimmt unterwegs Passagiere an Bord. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walter

Um Passagier werben

Wer sich für ein paar Mark die große Kreuzfahrt leistet, sieht nicht nur vor lauter Uferwald die Bäume nicht. Er kommt auch an Schlössern wie Babelsberg oder Cecilienhof und einer mächtigen Burg, der Spandauer Zitadelle, vorüber, ohne die Stadtgrenze zu streifen.

An den Stegen der Weißen Flotte dümpeln Fahrgastschiffe verschiedenster Größe, und es wird um Passagiere geworben. Bei schönem Wetter sitzen schon lange vor der Abfahrt Stammgäste auf den besten Plätzen: Für manche sind es die windgeschützten, für andere ist der Bug unter der Reedereiflagge gerade das Richtige für den Kreislauf. Manche lesen noch die Zeitung, bevor die Schraube das Wasser quirlt und die Schwäne respektvoll Platz machen.

Man kann auch mitten in der Stadt an Bord gehen, um dann den Windungen der Spree zur Mündung in die Havel zu folgen.

Fontäne vor Schloss Babelsberg. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walter

Ungemein volkstümlich

Langweilig wird die Fahrt nie. Dazu wechselt der Kurs zu oft, folgt den gegliederten Ufern in schilfbewachsene Buchten, wo Haubentaucher ihr Revier haben.

Vom Oberdeck eines großen Havelmotorschiffes beguckt sich das in angenehmer Gemütlichkeit. Die eine lässt sich das zweite Stück Torte im Kaffeedeck schmecken, der andere nimmt noch ein Bier. Schließlich steht er nicht am Ruder.

Das alles ist ungemein volkstümlich, auch wenn das Taschengeld oder die Rente nur wenig fürs höchst persönliche „high life“ hergeben – auf dem Berliner Wasser findet jeder ein erholsames Plätzchen, wenn er nur will, sogar bei abendlichen Mondscheinfahrten. Und wannseekrank ist dabei noch keiner geworden, jedenfalls nicht von den Wellen.

Fahrt durchs Gemünd in die Unterhavel. © Foto/BU: Dr. Peer Schmidt-Walter

Einmal von Tegel nach Werder und retour

Tegel, Greenwich-Promenade, Brücke 1. Hier soll`s losgehen, von der Anlegestelle der „Stern- und Kreisschifffahrt“, Berlins größter Fahrgastreederei. Unser 62-Meter-„Dampfer“ heißt „Havelstern“, kurz „der Stern“ genannt, und war mal der größte West-Berlins. Der Vier-Streifen-Mann im Ruderhaus ist als Binnenschiffer „nur“ Schiffsführer, aber ein durchaus respektabler Kapitän mit Namen Oleg Heczko. 23 Jahre ist er schon an Bord, nur getoppt von seinem Ex-Kollegen Erich Wolter, der es auf 32 Jahre Brückendienst gebracht hat. Jetzt ist er pensioniert und fährt hin und wieder „zum Vergnügen“ mit, um seinem „Nachfolger auf die Finger zu sehen“, wie er, nicht ganz ernst gemeint, angekündigt hat.

10.30: Abfahrt Tegel Greenwichpromenade. Das Ziel: nach neun Stunden wieder Tegel. Mit 85 Kilometern ist es die zweitlängste See(n)reise Berlins. Dazwischen Inseln, Kanäle, Flüsse, Brücken, Häfen und eine Schleuse.

Das alles gehört zur Bundeswasserstraße HOW, wie die Havel-Oder-Wasserstraße kurz genannt wird.

10.20: Am Bug knattert der Berliner Bär wie elektrisiert auf der weißen Flagge im Sonntagswind. Das Typhon dröhnt drei Mal kurz hinüber zur roten englischen Telefonzelle aus dem Londoner Stadtteil Greenwich: Achtung, Maschine läuft rückwärts! Neben dem Schiff wirbelt das grüne See-Wasser auf. Schiffsführer Oleg Heczko muss drehen. Vor dem Steven dehnt sich der fünf Kilometer lange Tegeler See, nach dem Müggelsee zweitgrößter Berlins.

10.30: An Backbord bleiben die ehemaligen Borsig-Werke achteraus zurück. Hinter Grün versteckt. Geblieben sind von der einst legendären Lokomotiv-Schmiede ein Verwaltungsgebäude und ein Bootshafen. Von der Uferterrasse zielen historische Kanonen auf die vorgelagerte kleine Insel Hasselwerder.

10.35: An Steuerbord überspannt die Sechserbrücke den Nordgraben. Dahinter dehnt sich der Tegeler Forst. Im Wald versteckt das weiße Schinkel-Schloss von Alexander und Wilhelm von Humboldt, einst kurfürstlicher Jagdsitz. „Das berühmte Brüderpaar“, schreibt Theodor Fontane in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, das diesem Fleckchen märkischen Sand auf Jahrhunderte hin eine Bedeutung leihen und es zur Pilgerstätte für Tausende Machen sollte, ruht dort gemeinschaftlich zu Füßen einer granitenen Säule, von deren Höhe die Gestalt der ´Hoffnung` auf die beiden herniederblickt“.

Das idyllische Forsthaus nebenan ist sogar in einem Vers von Goethes „Faust“ verewigt: „…das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel, Wir sind so klug, und dennoch spukt´s in Tegel“. Bei Nacht und Käuzchen-Schreien sicherlich. Ein Leichtes, sich in dem ausgedehnten Waldgebiet zu verlaufen.

10.40: Steuerbord querab: Über dem Gästehaus der Bundesregierung, der ehemaligen Villa Borsig, flattert über den Baumwipfeln der Bundesadler.

Voraus eine schmale Durchfahrt. Kurz darauf gleitet die Insel Scharfenberg mit Schulfarm und Internat an Backbord vorüber. Sie liegt „mittenmang im Jrünen“ und kann nur per Fähre erreicht werden. Auf der anderen Seite fröhliches Gekreische im gelben kiefernbestandenen Sand des Strandbades Tegel.

Sieben Inseln gliedern den See und geben ihm ein ganz eigenes Gepräge. Passiert werden Lindwerder, Baumwerder und Valentinswerder.

10.45: Bei Tegelort konnten in den Ufergaststätten vor dem Krieg „Familien Kaffee kochen. Auch so eine berlinische Eigenheit. Die Südspitze des Vororts formt eine Havelenge.

An Backbord zweigen wenig später der Hohenzollernkanal und kurz danach der Alte Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal ab. Wer hier einbiegt, erreicht über die Schleuse Plötzensee die Innenstadt. Zwei Neubau-Brücken überspannen den Spandauer See. Hohe Speichergebäude weisen an Steuerbord auf den Hafen hin. Immerhin war der am 12. Oktober 1973 Schauplatz einer ungewöhnlichen Premiere, als das seegehende Motorgüterschiff „Cargo-Liner I“ getauft wurde. Dessen Heimathafen war die Binneninsel Berlin, die damit Seehafen wurde. Die Flotte wuchs auf sieben Schwesterschiffe an und verband die Stadt mit den großen und kleinen Häfen der Welt.

10.55: Vor der Eiswerderbrücke wird über den Deckslautsprecher gewarnt: „Bitte unbedingt Sitzenbleiben und die Köpfe einziehen, der Wasserstand ist hoch“ Nur eine Spanne Luft zwischen Reling und Brückenträgern. Im gleichen Moment zieht ein Jet, gestartet auf dem Flughafen Tegel, im Steilflug über die Passagiere hinweg. Am Spandauer Ufer trocknen Netze. Ein Fischer, letzter seiner Zunft, bietet auf einer Tafel Aal, Zander und Plötze an, frisch und geräuchert.

10.58: An Backbord reckt die Spandauer Zitadelle ihre Türme über die Baumriesen, an Steuerbord das Idyll der Spandauer Wasserstadt mit Kanälen und historischen Gebäuden.

11.00: Kapitän Oleg Heczko fädelt seinen 8,23 Meter breiten Liner nach fünf Kilometern Fahrt in die Spandauer Schleuse. Sie war wie alle anderen Schleusen bis zur Wende „Territorium der DDR“, weil von Ost-Berlin aus verwaltet.

In 15 Minuten ist der „Havelstern“ um 2,10 Meter abgesenkt, das Tor öffnet sich und die Ampel zeigt Grün. An Steuerbord überragt die Spandauer Nikolaikirche aus dem 14. Jahrhundert den die Bezirksstadt, der sich gern als „bei Berlin gelegen“ bezeichnet.

11.15: Einfahrt in die kanalisierte Havel.Gleich links hinter der Juliusturmbrücke mündet nach 380 Kilometern die Spree ein. Ihr Wasser heißt jetzt Havel, die es insgesamt auf „nur“ 334 Kilometer bringt. Aber sie wurde 2004 zur „Flusslandschaft des Jahres“ gekürt.

Gleich drei Mal steht hier der Kilometer null: für Ober- und Unterhavel sowie für die Spree. Ein Stück aufwärts liegt im alten Spreearm die letzte größere Werft Berlins: die deutschen Industriewerke Spandau.

Polnische Schubverbände aus Bromberg oder Stettin passieren mit schlesischer Kohle. Berlins Energie aus dem Osten.

11.20: Kurzer Stopp am Spandauer Lindenufer, um ein paar Gäste an Bord zu nehmen.

Charlottenbrücke, hinein ins Dunkle, dann umdrehen – oben fährt gerade ein dicker Brummer drüber. Bei der nächsten ist es ein ICE. Dischinger- und Schulenburgbrücke:

Brücken, Brücken – diese Stadt hat rund 900 – mehr als fast jede andere Stadt in Europa. Die flachgelegte Reedereiflagge verbeugt sich davor.

11.25: An Steuerbord Binnenfrachter – bis zum maximalen 1300-Tonnen-Europamaß – in Sonntagsruhe. Von den Hochhausbalkons schauen Spandauer auf den „Stern“ herab. Wenig späteran Backbord Tiefwerder, von Laubenhäuschen, Kleingärten und schmalen Kanälchen durchzogen. „Klein Venedig“ heißt das Wasserlabyrinth bei den Berlinern.

11.30: An der Freybrücke über die Heerstraße legt Oleg wieder an. Einziger Gast: Ex-Kollege Erich Wolter steigt zu und freut sich auf einen Klönschnack im Steuerhaus.

Zwei Leuchtfeuer markieren Minuten später die kanalisierte Ausfahrt – Pichelswerder Gemünd genannt – in die hier über einen Kilometer breite Unterhavel mit ihrer typisch märkischen Landschaft: weiße Strände und von Kiefern bewaldete Haveldünen. Von der Großstadt Berlin ist hier nichts mehr zu spüren. Jemand von den Oberdecks-Gästen kann sich bruchstückhaft an die erste Strophe des Brandenburg-Lieds erinnern: „Märkische Heide, Märkischer Sand sind des Märkers Freude, sind sein Heimatland…hoch über Sumpf und Sand, hoch über dunkle Kiefernwälder…“

11.35: „Das ist die Scharfe Lanke“, erklärt Oleg und meint die Bucht an Steuerbord, „ und rechts auf dem Pichelswerder wurde 1815 die „Prinzessin Charlotte von Preußen“ auf Kiel gelegt, das erste deutsche Dampfschiff.

Kurz darauf ein Schicksalsort der Geschichte an Backbord: die Halbinsel Schildhorn. Hier soll der letzte Wendenfürst, Jaczo, verfolgt von Albrecht dem Bären, mit seinem Pferd durch die Havel geflohen sein. Als das Pferd in der Flut versank, soll er „Hilf mir, o Christengott!“ gerufen haben. Sein Ruf fand Gehör. Zum Zeichen seiner Unterwerfung hängte er seinen Schild an eine Eiche. Das Denkmal erinnert daran. „Übrigens“, erklärt Oleg, „tragen sämtliche vorspringenden Ecke dieser Seenkette die Bezeichnung ´Horn` wie auch das Kuhhorn, das jetzt in Sicht kommt“.

11.45: Steuerbord – der einstige Wohnsitz des britischen Stadtkommandanten. Vor uns das „Große Fenster“, linker Hand, über dem Wald, der 56 Meter hohe Grunewaldturm, vormals Kaiser-Wilhelm-Turm mit Havelpanorama total. Er wurde 1897/98 zu Ehren von Kaiser Wilhelm I. erbaut. Berliner Skipper, so weiß Erich Wolter, haben eine besondere Beziehung zu dem Turm: „Immer, wenn man vom Wasser aus durch die gegenüber liegenden Turmfenster sehen kann, gibt´s an Bord einen Schluck – natürlich nur für die Mitfahrer“.

An Lindwerder und Schwanenwerder vorbei, Segelboote wie weiße Schmetterlinge auf einem Spiegel. „An schönen Sonntagen“, sagt Erich, „da stehste wie vor einer weißen Wand und könntest trockenen Fußes ´rüberlaufen“.

12.25: Oberhalb von Kälberwerder, zwischen Kladow im Norden, der noblen Insel Schwanenwerderim Nordosten und Wannsee im Süden, scheint die Havel zum Meer zu werden. „Große Breite“ heißt sie daher folgerichtig und präsentiert sich vier Kilometer breit.

Strandbad Wannsee am „Haussee der Berliner“, querab an Backbord. Menschenameisen tummeln sich im Wasser und am gelben Lido-Strand wie eh und je – ob mit oder ohne „Schwesterlein“, wie Cornelia Froboess einst singend empfahl. „Der Sand übrigens“, ergänzt Oleg, „ist extra von der Ostsee herangekarrt worden“.

12.30: Nach 15 Kilometern ab Spandau wird „Station Wannsee“ ausgerufen. Auf der Anlegebrücke eine lange Schlange. Aber, keine Sorge, auf dem „Stern“ ist reichlich Platz. Die Küche hat zum Glück noch Nachschub geordert, der schon bereit steht.

12.45: Kladow voraus. Die hohe Turmnadel, die den Wald an Backbord überragt, ist der Fernmeldeturm auf dem Schäferberg. Telefon, Fernsehen – Berlins Verbindung zur Welt.

12.50: Anlegen in Kladow. Der Vorort liegt auf einer märkischen Sanddüne gegenüber dem Großen Wannsee. „Von Kladow bis zum Imchen – da sind wir als Kinder hingeschwommen“, erzählt ein Gast, als die kleine naturgeschütze Insel umfahren wird. Er ist im ehemaligen Fischerdorf Kladow aufgewachsen. Damals hat es noch viele Bauern gegeben, heute sind`s nur noch ein paar.

Hier, nördlich von Potsdam, zeigen sich die Berliner Gewässer von ihrer schönsten Seite.

13.05: Vier Kilometer Kurs Südwest. Stopp am Anleger „Pfaueninsel“. Einen Quadratkilometer ist die Insel groß, die früher Kaninchenwerder hieß und „eine absolute Wildnis“ war, wie Fontane bemerkte. Nach ihrer Umgestaltung ist sie bis heute eine Mischung aus tropischem Urwald und englischer Parklandschaft geblieben.

Fontane begeisterte sich dafür: „Pfaueninsel! Wie ein Märchen steigt ein Bild aus Kindertagen vor mir auf: ein Schloss, Palmen und Känguruhs; Papageien kreischen; Pfauen sitzen auf hoher Stange oder schlagen ein Rad, Volieren, Springbrunnen, überschattete Wiesen; Schlängelpfade, die überall hinführen und nirgends; ein rätselvolles Eiland, eine Oase, ein Blumenteppich inmitten der Mark“.

Weithin sichtbares Wahrzeichen ist das romantische weiße Schlösschen, Schauplatz vieler Filme. Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. ließ es 1794 bis 1797 als Lustschloss für seine langjährige Mätresse, die Gräfin Lichtenau nach ihren eigenen Entwürfen von Baumeister Brendel errichten lassen – mit einer „Liebesbrücke“ zwischen den Türmen.

Er ließ auch die königliche Menagerie anlegen, einen der ersten zoologischen Gärten Europas. Die Bären, Lamas und Känguruhs wurden auf Rat von Alexander von Humboldt 1842 in die Stadt übersiedelt.

Im Süden der Insel liegt der von Schinkel erbaute Fregattenschuppen. In dem war der Dreimaster „Royal Luise“ untergebracht, ein Geschenk des englischen Königs. Heute segelt ein Nachbau über die Havel, den sogar „Bürgerliche“ für „Lustfahrten“ chartern können. „´Eine Fahrt nach der Pfaueninsel`“, zitiert Fontane seinen Zeitgenossen Kopisch 1852, „´galt als das schönste Familienfest des Jahres`“.

13.10: MS „Havelstern“ steuert in den Jungfernsee ein, der Teil des natürlichen Havellaufs zwischen Berlin und Potsdam ist. Hier endet die Untere Havelwasserstraße.

Von den bewaldeten Havelhöhen von Nikolskoe an Backbord grüßt die Kirche Peter und Paul herab, die als Miniaturausgabe der St. Petersburger Kathedrale gilt. Ihren Bau von 1834 bis 1837 hatte Zarin Alexandra Fedorowna angeregt. Sie war die Tochter Friedrich Wilhelm III. und wurde 1817 vom Großfürsten Nikolaus, dem späteren Zaren, geheiratet. Das Blockhaus Nikolskoe, eine traditionsreiche Gaststätte, wurde 1819 gebaut, als das russische Herrscherpaar Berlin besuchte.

Die Bucht Moorlake wird an Backbord liegengelassen – hier verlief bis zur Wende die scharf bewachte Zonengrenze – während Steuerbord voraus die Landspitze Krughorn mit der Heilandskirche von Sacrow auftaucht. Gebaut wurde sie zwischen 1841 und 1842 vom Schinkel-Schüler Persius.

13.20: Anlegen nach vier Kilometern in Potsdam-Cecilienhof. Das Schloss ist ein touristischer Magnet. Man kann sich hier nicht nur die Wohnräume des letzten Kronprinzenpaares anschauen, sondern auch eine Ausstellung über die Potsdamer Konferenz der Siegermächte von 1945.

Nach dem Wenden zeigt der Steven jetzt nach Osten, direkt auf das Jagdschloss Glienicke. Bis Oleg nach Steuerbord dreht und unter der geschichtsträchtigen Glienicker Brücke hindurch in den Tiefen See, erstes Teilstück der Potsdamer Havel, einläuft.

Auf der ehemaligen Grenzbrücke zwischen West-Berlin und der DDR tauschten die Westalliierten einige Male Spione mit der Sowjetunion aus. Sie wurde von den Kommunisten zwar „Brücke der Einheit“ genannt, aber war das genaue Gegenteil davon.

Nachdem MS „Havelstern“ die Parade der Potsdamer Villen abgenommen hat, passiert sie an Steuerbord den modernen roten Theaterneubau, der ein bisschen an das Opera House von Sidney erinnert. Gleich dahinter zwei kuriose Schilder. Eins weist nach links mit der Aufschrift NORDSEE, eins nach rechts sagt, dass es dort in Richtung OSTSEE geht.

Im Zentrum Potsdams drehen sich unablässig Baukräne, auch am Kuppelbau der Nikolaikirche. Schloss Sanssouci, die Sommerresidenz des „Alten Fritz“, Friedrichs des Großen, liegt nicht am Wasser und entzieht sich daher den Blicken der Havel-Seenfahrer. Potsdams Sehenswürdigkeiten sind einen gesonderten Landgang wert.

13.55: Aus dem Grund verlässt ein Teil Fahrgäste an der Potsdamer Lange Brücke das Schiff, steigt auf der Rückfahrt um 16 Uhr wieder zu oder nimmt die Bahn zur Heimfahrt.

Am Nachbarliegeplatz das schweizerische Vier-Sterne-Flusskreuzfahrtschiff „Saxonia“, das auf dem Weg nach Stralsund an der Ostsee ist. Dafür braucht es eine Woche.

Quer über den Templiner See nimmt MS „Havelstern“ jetzt Kurs auf Caputh. Nobelpreisträger Albert Einstein soll hier in seinem Sommerhaus von 1929 bis 1932 die glücklichsten Jahre verbracht haben. „Was wenig bekannt ist“, ergänzt Oleg aus seiner reichen Wissenskiste, „dass der geniale Denker auch ein begeisterter Segler war und sich oft mit seinem Jollenkreuzer auf den Havelseen entspannte“. An diesem Sonnensonntag hat es hunderte von Tagesausflüglern hierher gezogen. Sie sitzen in den Gartenrestaurants um die Fähre und schauen bei Kaffe und Kuchen den passierenden Freizeitbooten und Ausflugsschiffen zu.

14.30: Ausfahrt durch das gewundene Caputher Gemünd in den großflächigen, aber flachen Schwielowsee, an dessen Südende der kleine Ort Ferch liegt.

Ein „Fan“ des Sees war die letzte deutsche Kaiserin Auguste Victoria. An Bord einer Dampfbarkasse genoss sie Wasser, Wald und gute Luft.

An Steuerbord das schon 933 erwähnte wendische Dorf Geltow, bis voraus – hinter der Straßenbrücke – der Turm der spätromanischen Dorfkirche „Zum Heiligen Geist“ in Sicht kommt. Theodor Fontane sah sie „von den Kuppen und Berglehnen am Schwilowsee aus…und die Jugendsehnsucht nach den Werderschen stieg wieder auf: hin nach der Havelinsel und ihrem grünen Kranz, ´wo tief im Laub die Knupperkirschen glühn`“.

14.55: 12 Kilometer hinter PotsdamMS „Havelstern“ hat den Wendepunkt der Reise erreicht: „Station Werder!“ Das Inselstädtchen gilt traditionell als Zentrum des havelländischen Obstanbaus, das besonders zur Baumblüte gern besucht wird. Das war auch schon zu Fontanes Zeiten so: „Garten- und Obstbauplantagen zu beiden Seiten, links bis zur Havel hinunter, rechts bis zu den Kuppen der Berge hinauf…Große Beete mit Erdbeeren und ganze Kirschbaumwälder breiten sich aus…Es scheint aber fast so, dass Werder als ein Fischerort ins siebzehnte Jahrhundert ein- und als ein Obst- und Gartenbauort heraustrat“. Der Große Kurfürst veranlasste diesen Wandel, denn Berlin brauchte Nahrung. Das milde Werdersche Klima eignet sich bestens dazu.

Mit den Worten „Blaue Havel, gelber Sand, Schwarzer Hut und braune Hand, Herzen frisch und Luft gesund und Kirschen wie ein Mädchenmund“, beschließt Theodor Fontane sein Loblied auf Werder.

15.00: MS „Havelstern“ legt wieder ab und nimmt den langen Rückweg unter den Kiel.

19.30: Nach viereinhalb weiteren Stunden und insgesamt 85 Kilometern schreibt Oleg in sein Logbuch: „Fest in Tegel!“

Für seine Gäste war es Fest für Augen, Ohren, Geist und Gemüt, die große Havelkreuzfahrt – durch eine abwechslungsreiche Landschaft voller Geschichte und Geschichten.

Informationen:

Schiffsdaten Fahrgastmotorschiff MS „Havelstern“: Busching + Rosemeier, Uffeln/Weser; Baujahr: 1968, Indienststellung: 1969; Reederei: Stern und Kreis Schifffahrt GmbH; Tonnage: 333 t; Länge: 62,48 m; Breite: 8,23; Tiefgang: 1,60 m; Höhe: 4,90 m; Maschine: 2 x MAN à 280 PS, 2 Hilfsdiesel 90, 35 PS; Geschwindigkeit (max.): 21 km/h; Steueranlage: Schottel-Ruderpropeller; Crew: 3 (1 Schiffsführer, 1 Steuermann, 1 Matrose), Gastronomie: 4; Personenkapazität (max.): 500

Buchung: an der Tageskasse; Preis (Tegel-Werder): 17,00 € (einfach), 19,50 € (hin und zurück); ,Auskünfte: Stern und Kreis Schifffahrt GmbH: Tel.: 030-536360-0; E-Mail: info@sternundkreis.de; Web: www.sternundkreis.de

Spree-Havel-Traumschiffe

Zum 80. Geburtstag „schenkte“ sich die Reederei Stern- und Kreisschifffahrt 1968 einen Superliner von einer Mindener Werft, dessen Name auch durch einen Leserwettbewerb ermittelt wurde: MS Havelstern (63 Meter Länge, 8,20 Meter Breite, 500 PS, 750 Plätze). Besonderheiten: eine 16 Meter lange Aussichtskanzel im Vorschiff, ein 40 Meter langes freies Oberdeck sowie eine Reihe weiterer Neuerungen. Vorbild waren diesmal die Pariser Seine-Boote.

1973 tauchte etwas ganz besonderes auf den Havelseen auf: Ein silberglänzender Wal, genannt Moby Dick nach dem Titel des Romans von Herman Melville. Ein Fahrgastschiff (gebaut an der Weser) in Walform, sogar mit aufgerichteter Schwanzflosse. Eine kuriose Idee, die dem Schiff inzwischen Weltruf eingebracht hat. Jeder will mit dem Moby fahren, der 48,31 Meter lang, 8,20 Meter breit ist, 420 PS hat und 486 Plätze bietet; wie fast alle anderen Neubauten ist auch der schuppenbewehrte Wal 20 km/h schnell. Moby Dick war das 80. Schiff der Stern- und Kreisschifffahrt nach der Gesamtschiffsliste, das 17. Schiff seit 1948 und der achte Nachkriegs-Neubau. Zum 800. Hafengeburtstag von Hamburg 1989 konnte Moby Dick an der Unterelbe „auftauchen“ und bei der Schiffsparade manches „Oh!“ und „Ah!“ bewirken.

Dampfendes Wunder

Gestaunt haben auch viele Wannsee-Sehleute, als am 11. Mai 1988 Berlins größtes und modernstes Fahrgastschiff, zur Jungfernfahrt auf den Wannsee auslief, umrahmt von einem Volksfest. Zwei Schaufelräder und die beiden acht Meter hohen Schornsteine mit goldfarbenen Kronen bringen einen Hauch von Mississippi auf die Havel – eine Verbindung zwischen Technik und Nostalgie, vom Kreuzfahrer-Luxus an Bord ganz zu schweigen.

Die Frau des damaligen Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen taufte den Neubau auf den Namen Havel-Queen. Das stolze Schiff ließ denn auch die traditionelle Sektflasche erst beim fünften Anwurf platzen. Die Königin der Havel ist natürlich die Attraktion zum 100. Reederei-Geburtstag gewesen – wie schon 1816 das „dampfende Wunder“ (14 PS), die 39 Meter lange Prinzessin von Preußen für 300 Passagiere, als „Sensation an der Havel“ gefeiert wurde. Die fast sieben Millionen teure Havel-Queen dagegen bringt es 172 Jahre später – 1988 zum 100. Firmenjubiläum – auf 67 Meter Länge, 9 Meter Breite, 1,20 Meter Tiefgang, 432 kW und 781 Plätze.

Grenzenloser Schiffsverkehr

Insgesamt „segeln“ heute 33 Fahrgastschiffe und sechs Fähren unter der traditionsreichen Flagge von Reederei Stern und Kreis, die seit 1999 zur Hegemann-Gruppe gehört.

Über eine Million Dampferfahrer lassen sich jährlich den märkischen Wind um die Nase wehen und Seefahrts-Assoziationen bescheren.

Seit März 1990 ist der Schiffsverkehr in und um Berlin grenzenlos: Die Weißen Flotten Ost und West kooperieren seitdem unter einem Dach und bieten bis dahin ungeahnte Kreuzfahrtmöglichkeiten auf 30 verschiedenen Linien mit 90 täglichen Abfahrten zu 80 Anlegestellen. Weiteste Strecken: Stettin und Brandenburg mit Busrückfahrt.

Natürlich kann, wer möchte, auch unterwegs aussteigen und per Bahn zurückfahren, wenn er sich noch die Füße vertreten möchte: wandernd auf Fontanes Spuren zum Beispiel.

Bleibt nur noch zu wünschen: eine erlebnisreiche märkische Seefahrt durch Berlin und seine wasserreiche Umgebung!

Geschichtliches: damals war’s…

1888 Gründung der Spree-Havel-Dampfschiffahrt Gesellschaft Stern mit Sitz in Berlin. Aufsichtsratsvorsitzender wird der Berliner Baurat Walter Kyllmann.

1889 Betriebseröffnung mit 17 Dampfern.

1903 Gründung der Teltower Kreisschiffahrt.

1907 Die Flotte besteht aus 61 Dampfer und 9 Motorbooten.

1911 Beförderung von mehr als 3 Millionen Fahrgästen.

1914-18 Die Kriegs- und Rezessionsjahre führen zu Einbrüchen bei den Passagierzahlen. Ungenutzte Schiffe werden verkauft.

1934 Aus wirtschaftlichen Gründen muß die Spree-Havel-Dampfschiffahrt Gesellschaft Stern den Betrieb einstellen. Schiffe, Anlegestellen und Werften gehen in den Besitz der Teltowkanal AG über, es bildet sich die Stern und Kreisschiffahrt der Teltowkanal AG.

1938 50. Firmenjubiläum. Der Schiffspark besteht aus 28 Dampfern, 18 Motorschiffen, 8 Motorbooten, 4 Wasserautos mit insgesamt 15 000 Plätzen.

1939-45 In den Kriegswirren geht der größte Teil des Schiffsbestandes der Stern und Kreisschiffahrt verloren, oder wird in der   Folgezeit beschlagnahmt und abtransportiert. Der Dampfer „Potsdam“ ist der Versenkung entgangen. Im Juni 1945 wird mit   der „Potsdam“ der Linienverkehr zwischen Stößenseebrücke und Glienicker Brücke wieder aufgenommen.

1948 Die Flotte besteht aus 11 Dampfern.

1961 Bei der Teilung Berlins verbleiben alle 11 Dampfer der Stern und  Kreisschiffahrt bei der damaligen DSU, wo sie später das Rückrat der Weißen Flotte Berlin bildeten. Die Stern und Kreisschiffahrt muß abermals neu beginnen. Um den Betrieb auf der Rundstrecke Wannsee-Kladow-Pfaueninsel-Wannsee aufnehmen zu können, werden anfangs gecharterte Schiffe eingesetzt.

1964 MS Wappen von Berlin wird in Dienst gestellt.

1966 MS Großer Kurfürst wird in Dienst gestellt.

1969 Neubau MS Havelstern.

1973 Neubau von MS Moby Dick, dem „schwimmenden Wal“.

1986 100jähriges Jubiläum DS Kaiser Friedrich.

1987 Indienststellung von MS Berolina und MS Monbijou.

1988 100. Firmenjubiläum. Neubau MS Havel Queen, ein Nachbau eines Mississippi-Raddampfers, wird zum Star der Mondscheinfahrten.

1991 Neubau MS Luna.

1992 Vereinigung der Weißen Flotte Berlin und der Stern und Kreisschiffahrt der Teltowkanal AG zur Stern und Kreisschiffahrt GmbH mit Sitz im Hafen Treptow.

1999 Vollständige Übernahme der Stern und Kreisschiffahrt GmbH durch die Hegemann Gruppe.

2000 Neubau des Luxusschiffes MS Sanssouci.

2001 Umbau und Modernisierung des Geschäftsgebäudes in Treptow und Verlängerung von MS Luna.

2002 Schiffspark: 26 Fahrgastschiffe mit rund 7.700 Plätzen, 6 Fähren  und rund 80 Anlegestellen in Berlin und Brandenburg.

2003 Neubau und Inbetriebnahme von 2 Fahrgastschiffen für die Innenstadt.

2004 Erwerb von MS La Paloma, dem größten Fahrgastschiff auf der Havel. Die Flotte erweitert sich auf 30 Fahrgastschiffe.

2006 Erwerb der Fahrgastschiffe MS Stern und MS Kreis. Die Flotte erweitert sich auf 33 Fahrgastschiffe.

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