Berlin, Deutschland (MaDeRe). In den frühen Morgenstunden, wenn sich die Wolken über den üppigen grünen Hügeln am Fuße der majestätischen Alpen in Frankreich zusammenziehen, entfaltet die Landschaft eine geheimnisvolle Aura. Es ist kein weites Tal, sondern gebirgiges Auf und Ab. Immer wieder taucht das Gebirgsmassiv auf, das wie ein Schutzwall über der Drôme thront. Deshalb lässt sich die Gegend entspannt erwandern. Sobald man sich dem südfranzösischen Ort Hauterives nähert, erhebt sich hinter dicken Mauern ein Bauwerk aus Stein, einer Kleckerburg ähnlich. Doch das ist kein Werk der Natur, sondern das beeindruckende Schaffen eines Mannes, des Postboten Ferdinand Cheval. Er war zu Beginn seiner Arbeit förmlich darüber gestolpert.
Steht man vor dem Palast ist man anfangs verwirrt, sogar entgeistert. Ist das Kunst, Kitsch oder Mystik? Von welcher Seite kann man sich nähern, soll man hinaufsteigen oder sich bücken und hineinschauen. Die Fassaden sind keine geraden Mauern, sondern schiefe pittoreske Gebilde. Wohnen kann man in dem Gebäude nicht. Doch die fantasievollen Ornamente, die in den Gängen, Hallen und Sälen zu sehen sind, sind erst nach mehrmaligem Hinsehen zu verstehen. An den Wänden verschmelzen drei Riesen Cäsar, Archimedes, Vercingetorix mit schuppiger Haut ineinander. Um sie herum herrscht ein wildes Durcheinander. Löwen und Geparden streifen umher und Elefanten stehen in Reih und Glied. Exotische Vögel schwirren in den Bäumen oder über mythische Kreaturen. Das Gestein windet sich in langen, geschwungenen Ranken über ihre Köpfe, umschlingt ihre Füße und formt elegante Torbögen, die sich zu kunstvoll verzierten Türmen in den Himmel strecken. Die Inspiration zu diesen Gebilden holte sich Cheval von Postkartenmotiven, die sich ab 1890 großer Beliebtheit erfreuten. Was hat den Mann bewogen in einem Zeitraum von 33 Jahren, von 1879 bis 1912, dieses Meisterwerk aus Steinen mit bloßen Händen, ganz allein zu errichten. Ein bisschen Geschichtsunterricht ist gut, um das alles zu verstehen. Die gibt es im Museum oder auf einem Flyer. Denn es sind nicht nur die Steine, der sie auf magische Weise miteinander verbinden. Nein, ihr gemeinsamer Ursprung liegt in einem Traum, der einst das Herz von Ferdinand Cheval erfüllte. Er war kein Steinmetz, sondern ein einfacher Postbote im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts. Tag für Tag durchstreifte er die Dörfer entlang der Drôme und bewunderte die prächtigen Schlösser und Kathedralen, die seine Route säumten. Während seiner Wanderungen träumte er davon, einen prächtigen Bau von atemberaubender Schönheit zu errichten. Sein eigenes Leben war geprägt von Einfachheit und Bescheidenheit. Er stammte aus einer armen Bauernfamilie und musste zeitig Verantwortung übernehmen. Da war keine Zeit für Schule und Spiel. Mit elf Jahren verlor er seine Mutter und mit siebzehn seinen Vater. Und der Tod ließ ihn nicht los: 1865 verlor er seinen einjährigen Sohn Victorin Joseph Ferdinand und 1873 starb seine Frau Rosalie, gerade einmal 32 Jahre alt. Für ihn war der Tod ein prägendes Element seines Lebens. Er meißelte später zahlreiche Sinnsprüche in die Mauern seines Palais, viele davon dem Tod gewidmet. Im April 1879, Cheval war das zweite Mal verheiratet und seine Frau Claire-Philomène erwartete das erste gemeinsame Kind. Wie jeden Tag führte sein Weg von zu Hause über holprige Straßen und mehrere Feldwege, als plötzlich sein Fuß an etwas hängen blieb und ihn einige Meter taumeln ließ. Verdutzt blickte er sich um und entdeckte einen Stein von solch bizarrer Form, dass er ihn vorsichtig in sein Taschentuch wickelte und in seinen Gemüsegarten mitnahm. Das war die Inspirationsquelle für seinen Palast. Von diesem Augenblick an begann Cheval jeden Tag auf seinen Postbotenrouten nach weiteren seltsam geformten Steinen Ausschau zu halten, um seinen Traum zu verwirklichen. „Ein Palast der Imagination erwartet Sie“, meißelte er während seiner Bauarbeiten in eine Mauer des Palastes. Unermüdlich arbeitete er Tag und Nacht bei jedem Wetter, ob Sonne, Wind, Regen oder Schneefall, daran. Anfangs trug Cheval die Steine noch in seiner Tasche nach Hause, doch schon bald brauchte er Körbe. Schließlich kam er auf die Idee, tagsüber Steinhaufen entlang seiner Route anzulegen, um sie dann abends mit einer Schubkarre abzuholen. Er schichtet Stein auf Stein, wählt sorgfältig aus, rührt Kalkmehl zu Mörtel an und begann mit einem kleinen Gartenteich, den er innerhalb von zwei Jahren ausbaute und mit Tierfiguren und einem Wasserfall verzierte. Dabei wurde sein Eifer geweckt und eine weitere Grotte entstand, gefolgt von einem zweiten Wasserfall sowie steinernen Palmen, Kakteen und Olivenbäumen. Mit jedem Fortschritt wurden seine Pläne größer und der Traumpalast entwickelte sich zu einer Art Sakralbau, etwas, das dem Tod trotzen und ihn überdauern würde. Es sollte sein eigenes Denkmal und Grabmal werden. Er baute eine ägyptische Grabstätte für seine letzte Ruhestätte. Die Bauweise schaute er sich aus Illustrierten ab. Mit Eifer begann er, eine Gruft auszuheben und Särge mit massiven Grabplatten aus Stein zu konstruieren. Doch während der Bauarbeiten gab es für ihn wieder ein Unglück. Er unterbrach seine Arbeit und meißelte in die Wand, „Der Sterbende ist eine untergehende Sonne, die in einer anderen Hemisphäre noch strahlender aufgeht.“ Der Spruch war für seine Tochter Alice-Marie-Philomène, die im Alter von 15 Jahren verstarb. Diese Auseinandersetzung mit seinem Leben, das war etwas, das seinem Leben einen Sinn gab. Obwohl Cheval eine dicke Mauer um das Baugelände zog, bekamen die Dorfbewohner mit, was dort vor sich ging. Er galt als verbissener Querulant und wurde verlacht. Sie hielten ihn, der über Jahrzehnte Tonnen von Steinen herbei karrte und oft die halbe Nacht an seinem Palast arbeitete, für verrückt. Doch die Sticheleien störten ihn nicht. Er balancierte auf dem windschiefen Baugerüst aus Ästen und Stämmen, um die oberen Stockwerke seines Palastes zu bauen. Dort entstanden nach und nach immer neue Räume, Säle und Grotten, die mit opulenten Verzierungen geschmückt waren. Er baute eine Moschee, Miniaturburgen, eine Aussichtsplattform und Säulen nach Art der Berber. Drei Treppen geht es nach oben zur Terrasse. Eine Inschrift des Palais Idéal verkündet, dass es das Werk eines einzelnen Mannes sei. Als der erste Artikel im Magazin „La Vie Illustrée“ 1905 erschien, ließen sich Architekten und Baumeister inspirieren und besuchten den fantastischen Palast. Journalisten kamen aus London, Paris, Amerika und beschrieben den Bau mit den verschiedenen Stilmerkmalen der Epochen und Kulturen. Im Jahr 1912, nach 10.000 Tagen, 93.000 Stunden, 33 Jahren ist das Bauwerk vollendet. Die Kunstwelt ist begeistert von diesem bemerkenswerten architektonischen Meisterwerk. Sogar Picasso reiste mehrmals an, um den Palast zu studieren. 1969 wurde der „Palais Idéal“ vom französischen Kulturminister André Malraux als „einzige naive Architektur der Welt“ unter Denkmalschutz gestellt. Er ist heute noch zu besichtigen und lockt jährlich rund 150.000 Besucher an. Doch all dies sollte Cheval nicht mehr erleben. Für ihn war der Palast vor allem der Ort, an dem er endlich seine letzte Ruhestätte finden wollte. So hätte er sich gewünscht, nach seinem Ableben darin begraben zu werden, doch nach französischem Recht ist das nur auf öffentlichen Friedhöfen erlaubt. Und so begann er erneut mit voller Hingabe und Leidenschaft seine Arbeit und schuf auf dem Dorffriedhof von Hauterives ein weiteres Meisterwerk, sein eigenes Grabmal. In demselben außergewöhnlichen Stil, wie der des Palais Idéal. 1924, verstarb Ferdinand Cheval. Doch mit seinem fantasievollen Bauwerk hat er Hautervices unendlich bereichert.
Reisehinweise:
Die Touristenattraktion „Le Palais Idéal du Facteur Cheval“ („Der perfekte Palast des Briefträgers Cheval“) ist täglich (bis auf Neujahr und den ersten Weihnachtsfeiertag) geöffnet. Der Eintrittspreis für Erwachsene liegt bei etwa 9 Euro, für Kinder und Gruppen gibt es Ermäßigungen.
Das Hauptgebäude des Palastes war am Ende zehn Meter hoch und 26 Meter lang – mit einer Aussichtsplattform auf seiner Spitze und diversen Gängen, Wendeltreppen, Kammern und einer unterirdischen Gruft ausgestattet. Cheval arbeitete daran von seinem 44. bis zu seinem 77. Lebensjahr.
Anzeige:
Reisen aller Art, aber nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert und mit Persönlichkeiten – auch Reisen durch das vergrößerte Westfrankenreich –, bietet Retroreisen an. Bei Retroreisen wird kein Etikettenschwindel betrieben, sondern die Begriffe Sustainability, Fair Travel und Slow Food werden großgeschrieben.