Kampen, Königreich der Niederland (MaDeRe). Ein starker Wind fegt über das Wasser und zerrt an den Jacken der Hafenarbeiter, während sie am Ufer der Ijssel stehen und auf die Ankunft der Ware warten. In der Ferne erblicken sie das majestätische Segelschiff, eine Kogge. Plötzlich bricht Hektik aus. Gewürze, Holz und Fisch müssen eiligst in die Lagerhallen gebracht werden, um den reibungslosen Ablauf des Handels zu gewährleisten. Die etwas kleineren Flussschiffe haben in Zwolle angelegt und bringen kostbare Güter wie Leinen und Seide. Heute, Jahrhunderte später, erinnern Museumsdokumente an die glorreiche Vergangenheit, aber das Erbe der Handelsstädte ist in den Gassen noch immer spürbar.
Vielleicht ist es die Magie, die der Pfefferbüchse innewohnt. Jedenfalls fühlt man sich wie zur Hansezeit, sobald man im Turm die 236 schmalen, gewendelten Stufen erklimmt. Nur wenig Sonnenlicht kommt durch die schmalen Fenster herein, und lassen kleine Staubwolken tanzen. Von oben blickt man auf das mittelalterliche Zentrum Zwolles, das die Stadtgracht sternförmig umgibt.
Ein Blickfang ist die gläserne, elipsenförmige Kuppel, in der das Museum Fundatie integriert ist, und auf dem ehemaligen Gefängnis thront. Das Dach besteht aus 55.000 Glasziegeln, die je nach Lichteinfall ihre Farbe ändern. Bei Sonnenschein erstrahlt das Dach in leuchtendem Weiß, an grauen Tagen hingegen färbt es sich blau. In der Ferne ragt majestätisch der Turm der ältesten Kirche der Nachbarstadt Kampen in den Himmel. Plötzlich durchbricht ein schwingendes Sausen die Stille. Der erste Glockenschlag erklingt und wird von anderen Glocken begleitet. Ein Akkord voller Wucht, der die Aufmerksamkeit bannt. Es sind niederländische Melodien, die alle viertel Stunde für kurze Zeit erklingen. Fast so wie früher, als die Glockenspieler die Glocken mit einem Seil für religiöse Zeremonien, Alarm- und Zeitsignale läuteten, und die Leute sich den Blick auf die Uhr ersparten. Die schmalen Straßen in Zwolle sind von Backsteinhäusern gesäumt, vor denen sich lilafarbener Eisenhut der Sonne entgegen streckt. Auf einer Steinmauer räkelt sich eine rotbraune Katze.
Von den einstigen Stadttoren ist das Sachsentor (Sassenport) mit seinen fünf Türmen aus dem Jahr 1409 erhalten geblieben und seit 1967 ein nationales Kulturerbe der Niederlande. Dieses wuchtige Tor hat die Stadt vor unerwünschten Besuchern geschützt. Wer es dennoch wagte, eine Übeltat zu begehen, musste vor der Hinrichtung acht Tage im Gefängnis unter dem ehemaligen Rathaus in Zwolle verbringen. Nach Verbüßung der Haftstrafe wurde der Verurteilte über den Atemweg zum Pranger am Großen Markt geführt. Heute wacht auf dem Markt ein „gläserner Engel“, der Heilige Michael, der Schutzpatron der Stadt. Während man durch die Stadt schlendert, trifft man auf weitere historische Spuren. In der St. Michaels Kirche gibt es interaktive Erlebnisse der Vergangenheit. Auf der Leinwand stürzt der 120 Meter hohe Turm der Kirche im Jahr 1682 in mit einem gewaltigen Krachen in sich zusammen. Der Stadtrat sah sich gezwungen, aus Geldnot die Glocken der Kirche an die Nachbarstadt Kampen zu verkaufen. Seit jener Zeit tragen die Einwohner von Zwolle den scherzhaften Spitznamen „Blaufinger“. Diese Stadtlegende ist von einer Portion Schadenfreunde geprägt und wird gern erzählt. Denn der Stadtrat verlangte damals für die Glocken einen hohen Preis. Als die Glocken in Kampen ankamen, zeigte sich, dass sie beschädigt waren. Aus Rache zahlte Kampen nur mit kleinen Kupfermünzen. Zwolle misstraute Kampen und wollte durch Zählen der Summe von Hand sichergehen, dass der gesamte Kaufpreis bezahlt wurde, wodurch sich die Finger der Geldzähler blau färbten.
Beim Stadtbummel sollte unbedingt der Buchladen in der ehemaligen Klosterkirche Broerenkirk besucht werden. Es gibt über zwei Etagen Bücher in englischer und niederländischer Sprache.
Und Naschkatzen finden bei Zwolse Balletjeshuis, einem Süßwarenladen mit originaler Einrichtung aus dem 16. Jahrhundert, traditionelle altholländische Süßigkeiten. Polka-Stückchen und Weinbällchen werden nach traditionellen Methoden im Keller des Zwolse Balletjeshuis hergestellt. Das Rezept ist uralt und immer noch geheim.
Mit der Bahn oder mit dem Fahrrad ist man in kürzester Zeit in Kampen und überquert die weiße Stadtbrücke, deren goldenen Zahnräder imposant hervorstechen. Am Ufer erhebt sich die „Skyline“ der Stadt. Türme, Kirchen, stattliche Kaufmannshäuser reihen sich aneinander. Die bunten Fassaden, die Erker und Ziergiebel an Häusern, Kirchen und Türmen, sind ein typisches Beispiel für die Kampener Architektur. Man kann sich gut vorstellen, dass die Kaufleute, die einst mit ihren beladenen Schiffen aus Skandinavien, Deutschland oder dem Baltikum über die Ijssel in den Hafen einfuhren, einen ähnlichen Anblick genossen haben. Allerdings bestand die Brücke damals noch aus Holz. Während sie an den Stadttoren vorbeifuhren, legten sie einen Zwischenstopp in der St. Nicolauskirche ein, um Kerzen anzuzünden und zu dem Schutzheiligen der Seefahrer, dem heiligen Nikolaus, zu beten.
Während des Gottesdienstes lauschten sie gebannt der Orgelmusik. Später beauftragte die Stadt den renommierten Orgelbauer Albertus Antoni Hinsz eine neue Orgel zu bauen. Seit 1743 ist diese mit drei Spieltischen, insgesamt 64 Registern und etwa 4000 Pfeifen eine der bedeutendsten Barockorgeln Europas. Das Kircheninstrument erlangte schnell Berühmtheit, und zahlreiche Neugierige reisten nach Kampen, um dieses „Weltwunder“ mit eigenen Augen zu sehen. Sobald der Organist eine Melodie von Bach erklingen lässt, erfüllt ein warmer und tiefer Klang den Raum. Im neuen Rathaus wird in einem Film gezeigt, wie die Kirche und anschließend die Häuser in Kampen auf einem leeren Stück Land am Ufer des Ijsselmeeres entstanden und während der Hansezeit zu großem Wohlstand gelangten. In dieser Zeit besaßen die Händler über 100 Koggen, Schiffe, die bis nach Portugal und Russland segelten. Doch auch die Hanse hatte ihre Schattenseiten, wie das Unglück einer dieser Koggen zeigte. Diese versank und lag fast 600 Jahre unentdeckt auf dem Grund der Ijssel in der Nähe von Kampen, und wurde im Februar 2016 von einem Team aus niederländischen Unterwasserarchäologen sowie Tauch- und Bergungsspezialisten geborgen. Den Sachverständigen war schnell klar, dass es sich um einen bedeutenden Schiffsfund handelte. Sogar der Ofen aus Backsteinen hat die Zeit unter Wasser überlebt. In einer eigens dafür errichteten Halle in Lelystad wurden die Überreste geborgen und 2024 kommt das Schiff ins Hanse Museum in Kampen.
Auf der Koggewerft am Rande der Stadt steht das maßstabsgetreue Holzmodell der „Zwarten Dame“ im Ausstellungsraum. Ina Hup erzählt begeistert von ihrer Kogge, die schon im Jahre 1994 geborgen und von der Kamper Stiftung innerhalb von vier Jahren so authentisch wie möglich rekonstruiert wurde. Damit ist es das älteste fahrende Schiff der Niederlande. Das Segeln mit dieser nachgebauten Kogge erwies sich alles andere als einfach. Das Steuerruder, das mit Eisenscharnieren am Heck der Kogge befestigt war, eine Technik, die seit dem 13. Jahrhundert bei allen seetüchtigen Schiffen zum Einsatz kam, erfordert immense Kraft. Zudem musste herausgefunden werden, wie viel Fracht das Schiff tragen konnte. Im Jahr 2004 begab sich die sportliche Frau mit dem blond gelockten Haar zum ersten Mal mit der Kogge und zehn erfahrenen Seemännern auf hohe See. Bei Windstärke acht gaben einige der Männer auf. Im Jahr 2016 unternahmen sie einen neuen Versuch. Sie überquerten die Nordsee. Diese Mission war erfolgreich und sie liefen sicher in den Hafen ein. Egal an welchem Ort sie ankamen, sei es Kiel, Bremen, Bremerhaven, Wismar, Rostock oder Malmö. Die Leute blieben stehen und staunten über das außergewöhnliche Schiff. Bei diesen Worten zaubert sich ein schelmisches Lächeln auf Inas Gesicht und sie gesteht: „In dem Moment bekam ich sofort eine Gänsehaut.“
Reisehinweise
In diesem Jahr bieten Zwolle, Kampen als auch die Hansestädte Deventer, Doesburg, Zutphen, Hattem, Hasselt, Elburg und Harderwik spezielle Veranstaltungen an.
Anfahrt: Mit dem Zug dauert die Anreise etwas länger als mit dem Auto. Das ist aber entspannter und nachhaltiger.
Besteigen der Pfefferbüchse: www.peperbus-zwolle.nl
Museum Fundantie: Das Museum de Fundatie besitzt und verwaltet eine umfangreiche Sammlung bildender Kunst. Sammlung und Ausstellungen, www.museumdefundatie.nl/de
Ehemaligen Klosterkirche im Van der Velde in de Broeren. Es soll die schönste Buchhandlung in den Niederlanden sein. www.vanderveldeindebroeren.nl/brasserie-in-de-broeren
Panorama Hanse: Entlang des ehemaligen Kirchturms geht es auf einem Stahlgeländer bis zum Dachgeschoss und schließlich auf das Dach der Großen Kirche. In über 30 Metern steht der Schutzengel Michael. Bis zum 31 Mai 2024 ist der Übergang geöffnet.
Academiehuis: www.academiehuis.nl/de/hanze
Kamper Kogge: Im Ausstellungsraum kann man sehen, wie das Schiff gebaut wurde und besondere mittelalterliche Funde bewundern. https://kamperkogge.nl/english-information
Tipps für Unterkunft: In Zwolle Grand Hotel Wientjes: Der Hauptbahnhof von Zwolle liegt 150 m entfernt und bis in das historische Zentrum sind es nur 4 Minuten Fußweg.
In Kampen: B&B De Graaf van Campen. Eine Viertelstunde Fußweg vom Bahnhof.